Theaterkritik | Uraufführung von "Hauke Haiens Tod"
Müssen wir uns der Vergangenheit stellen, um zu überleben? Dieser Frage widmet sich ein neues Stück am Deutschen Theater in Berlin, das den "Schimmelreiter" weiterdreht. Die Vorlage stammt von Wirtschaftsminister Habeck und dessen Frau. Von Barbara Behrendt
Während Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sich gerade mit Vorwürfen zur Entscheidungsfindung beim Atomausstieg herumschlagen muss, drängt sich sein Zweitberuf als Schriftsteller nach vorn: Der Roman "Hauke Haiens Tod", den er vor über 20 Jahren mit seiner Frau Andrea Paluch geschrieben hat, feiert in diesen Tagen gleich zweimal Premiere.
Die Verfilmung "Die Flut – Tod am Deich" ist am Samstagabend in der ARD zu sehen sowie schon jetzt in der Mediathek [daserste.de]. Einen Tag zuvor brachte das Deutsche Theater in Berlin die Uraufführung auf die Bühne in Kooperation mit dem Rambazamba-Theater.
Ob der Stoff nun ein Krimi oder eine Heldengeschichte ist – darüber können sich die Polizistin (herzerfrischend komisch: Franziska Kleinert) in Tatort-Reiniger-Outfit und der Heimatforscher (ganz trocken: Sebastian Urbanski, beide vom Rambazamba-Theater) noch vor geschlossenem Vorhang einfach nicht einigen.
"Das wird der tollste Krimi, den Sie überhaupt gesehen haben!", schwärmt die Polizistin ins Publikum. Und der Heimatforscher: "Wir sind hier nicht im deutschen Fernsehen! Wir sind hier im Deutschen Theater, verdammt! In dieser Geschichte gibt es keine Mörder!"
Doch halt – einen Mörder gebe es dann eben doch: das Wasser. Und damit steigen wir ein in diesen schrägen Öko-Gruselkrimi, bei dem nie ganz deutlich wird, wer hier wen umbringt. Der Mensch die Natur – oder die Natur den Menschen?
Fakt ist, Wienke Haien lebt. So zumindest haben Robert Habeck und Andrea Paluch in ihrem recht spannenden Unterhaltungsroman "Hauke Haiens Tod" Storms Schimmelreiter fortgeschrieben. Wienke Haien ist die geistig beeinträchtigte Tochter des Deichgrafen Hauke Haien. Theodor Storm ließ sie in seiner Novelle samt Mutter in der Sturmflut ertrinken lässt, woraufhin sich der Deichgraf mitsamt dem glutäugigen Schimmel hinterherstürzt.
Beim Regisseur Jan-Christoph Gockel ist diese alte Erzählung nur das abgründige Spuk-Fundament. Auf der Handlungsebene hält er sich an Habeck und Paluch: Wienke hat überlebt, Hauke Haiens Knecht Iven gab sie anschließend in ein Heim. Nun, 15 Jahre später, steht sie bei Iven vor der Tür und will wissen, wer sie ist. "Bring mich dahin, wo meine Eltern gestorben sind", fordert sie.
Jetzt legt der Vorhang eine düstere Kaschemme in Wienkes Heimatdorf frei, eine Mischung aus verlassener Tankstelle und Horror-Motel. Das Bild einer Live-Kamera, projeziert auf einen Gaze-Vorhang, zeigt, was sich im Inneren abspielt. Almut Zilcher raucht als abgehalfterte Gaststättenbetreiberin Kette und krault das Fell ihrer toten Katze, bis das Tier plötzlich - Gruseleffekt! - ein Auge aufschlägt.
Gockel nutzt Storms "Schimmelreiter", der eigentlich als Stück der Stunde zur Klimakrise gilt, nicht für vordergründige Umweltfragen, sondern um das Recht auf eine abgeschlossene Vergangenheit zu ergründen. Nicht nur das echte Katzenfell wird hier fürs Puppenspiel umfunktioniert, sondern auch die komplette Haut eines Schimmels. Bis man dem Monolog des zuständigen Tierpräparators lauscht, der sich entgegen der Erwartung für das Recht eines jeden Körpers auf Verwesung ausspricht. (Die Tiere, so das DT, seien alle eines natürlichen Todes gestorben.)
Almut Zilcher befürwortet dagegen mit Heiner Müller die Totenausgrabung, die sie auch in ihrem Beruf vornimmt: "Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen."
Da ist es ein Muss, dass Hauke Haien (unter der Maske kaum erkennbar: Manuel Harder) irgendwann die schlammigen Hände aus dem Grab streckt und seinen Tod aufklärt: Es sei ihm immer um die Rettung des Dorfs gegangen. Und während sich das Ensemble als Verweis auf die Gegenwart zur Protestdemo formiert und Sektengurus verfällt, spricht der Deichgraf nun wie Robert Habeck.
"In den letzten Jahren ist das 'Fahren auf Sicht' zur Metapher für politisches Handeln geworden. Fährt man auf Sicht, weiß man nicht, was richtig ist, möchte nur keine Fehler machen. Auf Sicht fährt man, wenn der Überblick verloren gegangen ist, wie im Nebel, wenn man nicht mehr so richtig weiß, wo es langgeht." Habeck war früher übrigens selbst für Deichbau verantwortlich, als Umweltminister in Schleswig-Holstein.
Wienke soll Lehren ziehen aus der Vergangenheit, Verantwortung übernehmen und sein Werk fortführen. Doch will sie das überhaupt? Muss hier der Mensch gerettet werden oder die Natur?
Regisseur Gockel fährt wieder einmal sein bombastisches Ästhetik-Potpourri aus Puppenspiel, Live-Video, Schauspiel und Musik auf. Doch diesmal erwächst daraus auch eine inhaltliche Vielschichtigkeit, die nichts erklärt, aber die Denkmaschine ankurbelt. Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Ensembles aus den direkten, enthusiastischen Rambazamba-Profis und den erfahrenen DT-Schauspieler:innen ist zudem ein großer Spaß. Ein nachhallender Öko-Krimi, der wohl auch den Spukfan Theodor Storm aus der Gruft locken würde.
Sendung: rbb24 Inforadio, 27.04.24, 08:54 Uhr
Beitrag von Barbara Behrendt
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