Theatertreffen-Kritik | "Laios"
"Laios" vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg ist eine schlaue Ergänzung im Kanon der griechischen Antike. Vor allem aber ist es eine atemberaubende One-Woman-Show für Lina Beckmann. Beim Theatertreffen gab es Standing Ovations. Von Fabian Wallmeier
Früh am Tag sei es. Oder nein, eher so früher Nachmittag. Auch nicht, denn genau genommen werde es eigentlich schon dunkel. Lina Beckmann steht an der Rampe und lässt gleich zu Beginn ihr komödiantisches Können funkeln. Eine Lappalie eigentlich, ob es nun früh morgens oder spät abends ist, eine Nebensächlichkeit.
Aber wie Beckmann stottert, genervt die Augen rollt, auf der Stelle tritt, sich mitten im Satz korrigiert und letztlich ganz selbstbewusst das Gegenteil vom gerade noch Gesagten behauptet: Das ist so fein gearbeitet, so genau einstudiert und wirkt doch so frisch improvisiert, dass das Publikum von der ersten Minute an ganz bei ihr ist.
Mit diesen ersten Sätzen ist auch eines der zentralen Themen dieses Auftritts beim Berliner Theatertreffen gesetzt: "Laios" vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg ist ein Abend über die Kunst des Erzählens und über das Verwischen und Infragestellen von Erzählungen.
"Laios" ist der zweite Teil von "Anthropolis", einer Serie von Antiken-Inszenierungen, die allesamt im griechischen Theben spielen. Manche Darsteller:innen tauchen mehrfach auf (Lina Beckmann etwa in den ersten beiden) und ein festes Team hinter den Kulissen hat alle fünf Abende zusammen erarbeitet. Allen voran Regisseurin und Intendantin Karin Beier und Autor Roland Schimmelpfennig, der aus antiken Stoffen und den Texten antiker Dramatiker fünf neue Stücke destilliert hat.
Im Fall von "Laois" füllt Schimmelpfennig gewissermaßen eine Lücke: Laios, König von Theben und Vater des Ödipus, ist im Vergleich ein relativ unbeschriebenes Stück Theaterliteratur. Hier bekommt er seinen großen Auftritt. Und noch viel mehr bekommt Lina Beckmann ihren großen Auftritt.
Beckmann stemmt die gut anderthalb Stunden im Alleingang. Sie ist die Erzählerin des Abends, schlüpft immer wieder mit und ohne Zuhilfenahme von Masken blitzschnell in einzelne Rollen und zurück. Wie sie all das zusammenhält, wie sie mit den Tonlagen jongliert, wie genau ihr Timing ist und wie sie ganz allein die große Bühne füllt, ist schlicht atemberaubend gut.
"Kranker Scheiß, oder", kommentiert sie, als sie einen kurzen Abriss der blutigen Vorgeschichte Thebens vom Drachentöter und Stadtgründer Kadmos bis zu seinem Urenkel Laios präsentiert hat. Ja, kranker Scheiß, keine Frage. Das gilt ganz sicher auch für die berühmte Geschichte von Ödipus: Im Orakel von Delphi sagt die Priesterin Pythia seinen Eltern Laios und Iokaste voraus, dass der Sohn den Vater töten und die Mutter schwängern werde.
Bei Beier und Schimmelpfennig ist das Orakel ein Schnellimbiss. Und die Priesterin bei Beckmann eine rasend komische, seltsame Alte, die erstmal einen heftigen Raucherhustenanfall bekommt. Dann schließlich blökt sie in breitem, ruppigem Westfälisch "So, jetzt aber raus mit der Prophezeiung", schnippt sich ein paar unsichtbare Krümel der Selbstgedrehten vom Schlabbershirt und rückt mit der Sprache heraus.
Doch Lina Beckmann beherrscht nicht nur das Komische. Sie kann blitzschnell umschalten ins Grüblerische und Tragische, ohne dass irgendetwas daran sich falsch oder prätentiös anfühlen würde. "Hör auf, hör auf", ruft sie immer wieder unvermittelt, schreit es sogar, mit schreckensstarrem Blick. "Wann hört das auf", fragt sie. Und gibt selbst die Antwort: "Das hört nicht auf."
Die seltsame Alte hat in Laios und Iokaste Zweifel gesät: Sie hat doch immer Recht, oder? Drei Jahre lang berühren sie sich nicht einmal. Aber ist es nicht ihre Pflicht als Königspaar, für einen Stammhalter zu sorgen? Und was weiß schon die Alte?
Wie es letztlich doch dazu kommt, dass Laios und Iokaste einen Sohn zeugen und trotz aller Bemühungen die Prophezeiung wahr wird, spielt das Stück in vier Varianten durch. In diesem Verhandeln von Wahrheiten und Möglichkeiten zeigt Beckmann, bevor sie ganz am Schluss noch in die Rolle eines mystisches Himmelwesens schlüpft, ihre ganze Kunst. Mit Standing Ovations und brausendem Jubel, wie man sie selbst in diesem bislang starken Theatertreffen-Jahrgang nicht gesehen und gehört hat, dankt es ihr das Berliner Publikum.
Dabei ist "Laios" noch nicht einmal der beste Teil der "Anthropolis"-Reihe. Noch imposanter ist Teil 1, "Prolog / Dionysos". Da lässt, im Gegensatz zur One-Woman-Show "Laios", das Theater richtig seine Muskeln spielen: Rund 20 Menschen lassen minutenlang ihre Taikoi-Trommeln dröhnen, bevor es blutig wird. Und ein echtes Pferd ist auf der Bühne zu sehen.
Star des Abends aber auch hier: Lina Beckmann. Die in Teilen improvisierte Weinprobe, mit der sie nach der Pause dionysische Gelage anklingen lässt, gehört zum Brüllkomischsten, was das Theater derzeit zu bieten hat. Und ihre Gewahrwerdung in ihrer Rolle als Agaue, dass sie unwissentlich ihren Sohn Pentheus getötet hat, zum Markerschütterndsten.
Ein Antiken-Marathon in fünf Teilen - da liegt natürlich der Vergleich mit Christopher Rüpings Spektakel "Dionysos Stadt" nahe: Der zehnstündige Theatertag von den Münchner Kammerspielen wurde vor fünf Jahren auch beim Theatertreffen gefeiert und anschließend zur Inszenierung des Jahres gewählt. Damit kann Beiers "Anthropolis" nicht mithalten.
Dennoch: Es lohnt sich unbedingt, auch die anderen vier Teile anzusehen. Die sind zwar alle unabhängig voneinander verständlich, ein besonders großer Spaß ist es aber zu entdecken, wo sie dann doch ineinander verschränkt sind und sich aufeinander beziehen. Das Hamburger Schauspielhaus zeigt alle fünf Teile immer wieder an Marathon-Wochenenden - freitags ein Stück, samstags und sonntags jeweils zwei. Ein so dichtes, aufregendes und unterhaltsames Theater-Wochenende bekommt man nicht alle Tage zu sehen. Auf nach Anthropolis, liebe Berliner:innen und Brandenburger:innen!
Sendung: rbb24 Inforadio, 15.05.2024, 7:55 Uhr
Beitrag von Fabian Wallmeier
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