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Anne Frank Zentrum-Leiterin Veronika Nahm
Vor 95 Jahren wurde Anne Frank geboren. Ihre Geschichte ist weltweit bekannt - mit dem Anne-Frank-Tag wird bundesweit an ihr Schicksal erinnert. Für Veronika Nahm, Leiterin des Anne Frank Zentrums, ist es wichtig, dass Schüler "eine direkte Spur ins heute" sehen.
Am 12. Juni 1929 wurde Anne Frank in Frankfurt/Main geboren. 1933 flüchtete die jüdische Familie nach Amsterdam. Ab 1942 versteckte sie sich in einem Hinterhaus, wo Anne Frank ihr Tagebuch schrieb - bis dann 1944 das Versteck der Familie verraten wurde und die Familie deportiert wurde.
Anne Frank starb im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Seit 2017 ist der 12. Juni der Anne-Frank- Tag, ein bundesweiter Aktionstag an Schulen, um das Engagement für eine demokratische Gesellschaft zu fördern und die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust zu stärken. Initiiert wurde dieser Tag vom Anne Frank Zentrum. Veronika Nahm leitet das Zentrum in Berlin.
rbb: Frau Nahm, 90.000 Schülerinnen und Schüler sowie rund 600 Schulen nehmen bundesweit an diesem Aktionstag gegen Antisemitismus und Rassismus teil. Das ist doch ein sehr positives Signal. Machen alle freiwillig mit?
Veronika Nahm: Ja, natürlich. Die Anmeldungen haben wir im Februar gestartet, und alle
Schulen beteiligen sich freiwillig. Manche machen schon seit vielen Jahren mit, manche sind
neu dabei.
Der diesjährige Aktionstag steht unter dem Motto "Der Geschichte auf der Spur". Aber gilt das nicht schon seit Jahren allgemein für Ihre Arbeit mit Ausstellungen und Projekten, auch der Geschichte auf der Spur zu sein?
Das ist richtig. Der besondere Ansatz des Anne Frank Zentrums ist es, einen Rahmen zu schaffen, in dem Kinder und Jugendliche selbst aktiv werden können für die Erinnerung und für ein demokratisches Miteinander. Zum Anne-Frank-Tag entwickeln wir jedes Jahr verschiedene pädagogische Materialien wie die Anne Frank Zeitung, eine Plakatausstellung, Postkarten und vieles mehr.
Jedes Jahr hat der Anne-Frank-Tag einen besonderen Schwerpunkt, und dieses Jahr ist es "Der Geschichte auf der Spur". In der Plakatausstellung gehen wir darauf ein, welche Quellen uns für die Erforschung und Darstellung von Geschichte zur Verfügung stehen. Es gibt Anregungen, in diesem Jahr speziell über die Geschichte des Nationalsozialismus vor Ort mehr herauszufinden.
Es gibt auch die Anne Frank Zeitung - wie muss man sich das vorstellen?
Jede Schülerin und jeder Schüler erhält die Anne Frank Zeitung. Sie hat 16
Seiten und ist voller Informationen über das Leben von Anne Frank und das Thema
Kriegstagebücher. Zum Beispiel wird ein Mädchen porträtiert, das während des Kriegs in der
Ukraine ein Tagebuch geschrieben hat. Es gibt viele Aufgaben und Anregungen, und die
Schülerinnen und Schüler können das Gelernte auch mit nach Hause nehmen und in der
Familie teilen.
Das Thema Kriegstagebücher ist sicherlich eine Möglichkeit, das gesamte Thema in die Gegenwart zu holen, besonders angesichts des Kriegs in der Ukraine. Ist das auch eine Anregung für die Schülerinnen und Schüler, selbst Tagebuch zu schreiben?
Ja, das ist tatsächlich ein Ansatz, den Schülerinnen und Schüler immer wieder interessant finden. Anne Frank sagte ja selbst, wie schön die Welt sein könnte, wenn wir uns alle abends oder während des Tages Zeit nehmen würden, um schriftlich nachzudenken, was wir gemacht haben, was wir besser machen könnten. Und natürlich haben Tagebücher heute nicht unbedingt immer die Schriftform, sondern auch die digitale Form.
Wie erleben Sie das eigentlich: Wie stark reflektieren die Kinder und die Jugendlichen Rassismus und Antisemitismus?
Wir eröffnen in diesem Jahr ja den Anne-Frank-Tag am Käthe-Kollwitz-Gymnasium in Berlin, und dort sind wir zur Vorbereitung natürlich auch mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch gekommen, schon mit Sechstklässlern, aber auch mit den höheren Jahrgängen.
Die sagen zum einen, dass die Gedanken, die Anne in ihrem Tagebuch beschrieben hat, heute noch sehr gut nachvollziehbar sind. Anne Frank reflektiert über Antisemitismus und über Diskriminierung, auch über andere Formen von Diskriminierung. Die Schülerinnen und Schüler sehen da auf jeden Fall eine direkte Spur ins Heute und sehen die Beschäftigung mit der Geschichte immer auch als Beschäftigung mit Antisemitismus heute, im Hier und Jetzt.
Nun haben wir leider ein ziemliches Erstarken von Rechtsextremismus. Gibt es darüber auch Gespräche?
Ja, ein weiterer wichtiger Punkt bei der Beschäftigung mit dem Tagebuch ist, dass auch Otto Frank, der das Tagebuch 1947 herausbrachte, sich sein ganzes Leben für Menschenrechte und Verständigung einsetzte. Er war der einzige Überlebende der acht Untergetauchten. Der Geist des Tagebuchs und die Werte, die Anne dort beschreibt, sind ein starker Gegenpunkt gegen Rechtsextremismus.
Sie arbeiten am Anne Frank Zentrum immer wieder auch mit Zeitzeuginnen und
Zeitzeugen zusammen, die den Kindern auch erzählen können, wie sie selbst im letzten Moment fliehen konnten und wie sie bei fremden Menschen aufgewachsen sind. Entdecken denn Kinder und Jugendliche heute Parallelen zu eigenen biografischen Geschichten, zu Flucht und Vertreibung? Denn das ist ja leider auch heute verbreitet.
Ja, in jedem Fall. Dieser lebensgeschichtliche Ansatz führt dazu, dass die Kinder immer auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur eigenen Biografie mitlaufen lassen. Deswegen ist der biografische Ansatz auch über die Zeit immer wieder aktuell, weil er sich über die Fragen und die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen, die sie besonders interessant finden, immer wieder verändert. Am Käthe-Kollwitz-Gymnasium wird Ruth Winkelmann zu Gast sein. Ich war dabei, als zwei Sechstklässler Ruth Winkelmann interviewt haben. Sie haben sich ihre eigenen Fragen ausgedacht, die oft aus ihrer eigenen Lebenserfahrung kommen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Nahm.
Das Interview mit Veronika Nahm führte Anja Herzog, radio3
Der Text ist eine redigierte Fassung. Das Gespräch können Sie auch oben im Audio-Player nachhören.
Sendung: Radio3, 12.06.2024, 7:20 Uhr
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