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Audio: radio3 | 19.06.2024 | Jörg Thadeusz und Silke Hennig | Quelle: IMAGO / Funke Foto Services

Ausstellungskritik | Galli im Palais Populaire

"Der Körper als Schlachtfeld, das trifft jeden"

Die 80-jährige Berliner Künstlerin Galli zeigt Malereien, Zeichnungen und Skulpturen, die physische Erfahrungen zu Bildwelten transformieren. Durch Chaos und Ordnung, Trauma und Humor entsteht dabei eine Perspektive, die die Kunstwelt bereichert. Von Julia Sie-Yong Fischer

"Seht zu, wie ihr zurechtkommt"! Der Titel der Ausstellung im Palais Populaire klingt wie eine beinahe trotzige Nachricht der Künstlerin Galli an ihr Publikum und wirkt erstmal geheimnisvoll unklar. Mit diesem Satz im Kopf wird bereits die erste und jüngste Malerei der Ausstellung zu einem visuellen Rätsel. Das Quadriptychon "o.T." (2010) besteht aus vier weißen Leinwänden, die mit schwarzen Strichen bezeichnet wurden.

Die dargestellten Motive sind weitestgehend identifizierbar: Ein Haus mit einem Arm, der einen Pinsel hält, sowie ein Sitzmöbel mit Armen und Beinen am Tisch sitzend. Ein Baum neben einem großen Gefäß wächst durch den Tisch, ein Wesen mit zwei Augen hält Händchen mit dem Gebäude. Und trotz der wenigen, klar gesetzten Linien gibt es jede Menge Momente, die sich der visuellen Logik entwinden.

Quelle: IMAGO / Funke Foto Services

Sind dem Stuhl Gliedmaßen gewachsen oder wurde ein Mensch in einen Stuhl verwandelt? Sind die gezeichneten Flächen geschlossen oder transparent? Es wirkt so, als würde das daneben geschriebene Zitat Gallis, dem eigenen Blick folgen und festhalten: "Es geht, es geht nicht, es geht (eigentlich nicht)". In einem Interview benannte sie mal den künstlerischen Prozess als eine ewige Reihenfolge von "Chaos, sortieren, Chaos, sortieren". Und so ist das betrachtende Publikum unmittelbar dabei in ihrer Bildwelt "zurechtzukommen".

Unkonventioneller Freiraum

Galli selbst musste sich mit der sie umgebenden, normativen Welt arrangieren. 1944 im Saarland als Anna-Gabriele Müller geboren, wächst sie in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus auf. Als queere Kleinwüchsige bemerkt sie früh, dass ihr die von anderen übergestülpten Konventionen weder passen noch gefallen.

Mit 24 Jahren beschliesst sie nach Berlin zu ziehen, um sich einen künstlerischen Freiraum zu geben. Hier lebt und arbeitet sie seitdem in Friedenau, geht in einen produktiven Austausch mit Schriftstellern wie Oskar Pastior. Sie lehrt und reist, muss sich aber nach gesundheitlichen Einschränkungen aus dem Kunstbetrieb zurückziehen. 2020 wird ihr durch die Teilnahme an der Berlin Biennale neue Aufmerksamkeit geschenkt.

Quelle: Galli

Wenn Bilder erzählen

Um der Künstlerin eine eigene Stimme in der Ausstellung zu geben, sind Gallis Zitate an den Wänden zu lesen. Die ordnen die Räume thematisch und geben mal mehr, mal weniger humorvoll Aufschluss über ihre Gedanken und Intentionen. So steht an einer Wand: "Mich faszinieren Versatzstücke, persiflierte Geschichten, die auftauchen, die Kreuz- und Querbezüge ergeben". Genau diese Vielfalt an Narration ist in Gallis Arbeit fundamental. Sie lässt Fabelwesen auftauchen, verwebt Wortfetzen aus dem Radio oder bezieht literarische Zitate in ihre Werke ein.

Auch religiöse und mythologische Symbolik taucht immer wieder auf. So ist das Gemälde "Spitzlinde" (1984) die Darstellung eines durchbohrten Frauenkörpers, der mit einem Lorbeerkranz wie eine Göttin gekrönt und gleichzeitig wie eine Hexe verbrannt wird. Die physische Gewalt gegenüber weiblichen Körpern mit gesellschaftlicher Ächtung und Achtung wird von ihr fast körperlich spürbar in einen einzigen, großen visuellen Widerspruch verstrickt.

Körper als Erfahrungsraum

Galli erforscht den Körper auf unkonventionelle, nonbinäre Weise. Sie stellt ihn objekthaft räumlich als Schutzraum oder Gefängnis dar, er sei ein "Schlachtfeld, das jeden betrifft". Und tatsächlich: Er wird von ihr fragmentiert , zusammengefügt oder sogar amputiert wie in "o.T. (17.06.1988)" (1988), wo ein geschlechtloses Wesen mit abgehackten Händen und undefinierbaren Kopf zu sehen ist. Kuratorin Annabel Burger klärt auf, dass dieses Bild auch die Malerei an sich hinterfragt: Was wäre die Malerin ohne Hände?

Das Auseinandernehmen, Neuordnen, Wegnehmen und Hinzufügen passiert bei Galli auf der inhaltlichen Ebene, aber auch im Umgang mit dem Material. Über den in Vitrinen gezeigten Kunstbüchern wie etwa "Liebe & Lyrik sind zweckfrei (etwas außerhalb der Legalität)" (1998-99) zeigen Videos die Künstlerin beim Umblättern der fragil zugeschnittenen Seiten, die über und über bemalt und bezeichnet sind. Auch ihre malerischen Skulpturen aus Pappe sind von beiden Seiten bemalt und aus einzelnen Teilen zusammengesetzt.

Palais Populaire: Galli - Seht zu, wie ihr zurechtkommt

Das sortierte Chaos

Die von den Ausstellungsmachenden als Kernelement bezeichnete Arbeit "Index Cards" (2000-06) gibt einen aufschlussreichen Einblick in den täglichen Schaffensprozess: Auf vielen Karteikarten sind Einkaufslisten, Poesie, Bildmotive und "Gallische Persiflage" mit Kuli, Buntstift und Farbe dicht und dennoch offen aufgetragen. Diese kleinen Zeichnungen offenbaren, dass jedes von ihr verwendete Bild oder Wort, gleiche Gültigkeit besitzen. Und wie die Sujets, die sie formuliert nicht konstruiert sind, sondern sich organisch aus ihrer Arbeit und der Umgebung heraus entwickeln.

Galli zeigt malerische Körperlichkeit und künstlerische Dringlichkeit, die auch bei wichtigen Malerinnen wie Miriam Cahn oder der verstorbenen Maria Lassnig zu finden sind. Erforschungen aus einer Perspektive, die zu lange vernachlässigt wurde und der nun eine faszinierende Zeitlosigkeit innewohnt.

Sendung: Radio 3, 19.06.2024, 07:40 Uhr

Galli "Seht zu, wie ihr zurechtkommt" 19.06.-07.10.2024 im Palais Populaire der Deutschen Bank, Unter den Linden 5, 10117 Berlin

Öffnungszeiten: täglich (außer Dienstag) 11-18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr

Beitrag von Julia Sie-Yong Fischer

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