Preis der Nationalgalerie
Gleich vier Mal wird der Preis der Nationalgalerie in diesem Jahr vergeben. Das Motto: weniger Wettbewerb, mehr künstlerische Entfaltung. Mit Techno-Beats und freiem Eintritt wird das gesamte Wochenende im Hamburger Bahnhof gefeiert. Von Marie Kaiser.
Mit Gestank lockt normalerweise niemand Menschen an. Genau das aber versucht der Hamburger Bahnhof in diesen Tagen. Wer das Museum betritt, dem schlägt schon vor Betreten der Ausstellungsräume ein beißender Geruch in die Nase. "The Reek" ("Der Gestank") - diesen ehrlichen Titel hat Dan Lie der raumgreifenden Installation gegeben.
Der Gestank selbst lässt sich nur schwer beschreiben. Er erinnert an hochkonzentriertes altes Blumenwasser mit einer Note von Pferdestall. Überall am Boden liegt verstreutes Heu. Von der Decke wachsen Pflanzen und an Seilen baumeln unzählige Blumensträuße, die langsam verrotten. Zwischen vier Säulen ist ein eigenes Ökosystem mit Pilzen, Bakterien und Insekten entstanden, die hier wachsen dürfen, wie sie wollen, und dann wieder vergehen. Dan Lie nennt die Installationen deswegen auch "living-and-dying installations" (lebende und sterbende Installationen). Der Geruch soll dabei als "unsichtbare Architektur" funktionieren, die ganz unterschiedliche Erinnerungen und Emotionen hervorrufen kann - dafür wurde er in diesem Jahr mit dem Preis der Nationalgalerie ausgezeichnet.
Seit 24 Jahren gibt es den Preis der Nationalgalerie nun schon. Er ist eine der wichtigsten Auszeichnungen für zeitgenössische Kunst. Preisträgerinnen wie Anne Imhoff oder Monica Bonvicini sind längst feste Größen in der Kunstwelt. Bisher wurde der Preis immer nach demselben Muster vergeben: Eine Shortlist von vier Künstlerinnen und Künstlern tritt auf einer gemeinsamen Ausstellung gegeneinander an. Am Ende wird ein Sieger oder eine Siegerin gekürt und mit einer Einzelausstellung im Hamburger Bahnhof geehrt.
Doch in diesem Jahr werden vier Künstler:innen ausgezeichnet: Dan Lie, Pan Daijing, Hanne Lippard und James Richards. "Wir wollten keinen Wettbewerb mehr zwischen vier künstlerischen Positionen veranstalten, was ja immer so eine Art Brautschau war", erklärt Till Fellrath, der vor zwei Jahren gemeinsam mit Sam Bardouil die Leitung des Hamburger Bahnhofs übernommen hat. "Wir haben von Anfang an gesagt, der Druck soll nicht auf den Vieren lasten, sondern sie sollen sich frei entfalten können."
Die beiden Direktoren des Hamburger Bahnhof verstehen den Preis der Nationalgalerie also nicht mehr als Sonderprämie für einen Künstler, sondern als kollektive Kunstförderung.
In diesem Jahr gab es insgesamt zwölf Nominierte unter 40 Jahren im ganzen deutschsprachigen Raum. Aus ihnen wurden die vier Gewinner:innen Pan Daijing, Dan Lie, Hanne Lippard und James Richards ausgewählt. "Wir haben sie angerufen und ihnen gleich gesagt, dass sie alle vier gewonnen haben. Niemand muss sich in der Ausstellung als besser als die anderen beweisen. Und das hat auch dazu geführt, dass sie sich viel mehr untereinander abgestimmt haben", betont Till Fellrath.
Die Arbeiten der Sieger:innen sprechen dabei ganz unterschiedliche Sinne an. Die britische Künstlerin Hanne Lippard arbeitet mit Klang: In einem Raum hat sie eine leuchtende Stele aufgestellt, aus der ein Murmeln zu hören ist. In ihrer Sound-Installation "Look for Words" erschallt aus sieben Boxen die Stimme der Künstlerin als Polyphonie - das Individuum wird hier zum Chor.
Auch Pan Daijings Kunst spricht die Ohren an. Die chinesische Künstlerin hat mit ihrer Installation "After Fugue" eine ganze Soundlandschaft erschaffen. Ein abgedunkeltes Labyrinth mit weinroter Auslegware, in dem Klaviermusik erklingt. Am Ende des Labyrinths ist eine Videoarbeit zu sehen. Mit wackliger Kamera und in teilweise unscharfen Bildern sehen wir die Künstlerin, die in einer verlassenen Halle Streichhölzer entzündet und sich an diesem Miniatur-Feuer die Hände wärmt. Aus der Wärme der Streichhölzer entsteht schließlich ein menschliches Gegenüber.
Schwindelerregend wird es dann beim britischen Künstler James Richards. Für seinen Film "The Speed of Mercy" hat er historische Graffiti aus dem Paris des 20. Jahrhunderts abgefilmt. In Mauern geritzte Totenköpfe oder Teufel. Wenn die Kamera über diese in Mauern geritzten Gesichter streift, geht jedes Gefühl für Maßstab verloren. Sie erscheinen fast wie Landschaften aus der Vogelperspektive betrachtet.
Obwohl die Positionen sehr unterschiedlich sind und in verschiedenen Räumen präsentiert werden, wirkt die Ausstellung zum 12. Preis der Nationalgalerie insgesamt organischer. Die Arbeiten greifen ineinander. Sam Bardouil, der die Ausstellung gemeinsam mit Till Fellrath kuratiert hat, beschreibt den gemeinsamen Nenner so: "Es geht in allen Arbeiten um die Frage, wie unser menschlicher Körper mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen kommuniziert und interagiert. Aber auch darum, wie Bilder und Wissen bewahrt und verbreitet werden können."
Die Arbeiten von Pan Daijing, Dan Lie, Hanne Lippard und James Richards sind nicht nur bis Januar im Hamburger Bahnhof zu sehen. Von allen vier Preisträger*innen - und das ist noch eine Neuerung - wird jeweils ein Kunstwerk für die Sammlung des Hamburger Bahnhofs angekauft.
Der neue Preis der Nationalgalerie soll als nachhaltige Förderung für junge Künstlerinnen und Künstler funktionieren, die sich noch nicht etabliert haben. Wie aber beispielsweise die doch recht flüchtige Geruchskunst von Dan Lie dauerhaft in die Sammlung eingehen kann, daran tüfteln die Museumskonservatoren im Hamburger Bahnhof noch, gibt Sam Bardouil zu: "Wir haben immer gesagt: Warum malen Künstler keine Bilder mehr, die Ausstellung wäre dann so viel einfacher aufzubauen. Natürlich war das nur ein Witz!"
Das ist doch ein schönes Beispiel dafür, wie der Hamburger Bahnhof als Institution hier von einer jungen Generation von Künstlerinnen und Künstlern vor ganz neue Herausforderungen gestellt wird - und daran bestimmt auch wächst.
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.06.2024, 20:00 Uhr
Beitrag von Marie Kaiser
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