Konzertkritik | Ty Segall in Berlin
San Francisco hatte schon immer eine äußerst aktive Gitarrenmusik-Szene. Einer der umtriebigsten Musiker der letzten Jahre dort ist Ty Segall. Gestern spielte mit seiner Band im Festsaal Kreuzberg. Jakob Bauer war ziemlich weggeblasen.
Immer wenn man denkt: Es geht nicht noch fetter, der Sound kann jetzt nicht noch saftiger, wuchtiger und brutaler werden, schaltet irgendwer in der Band noch ein Fuzz-Verzerrer-Pedal an. Mit diesem Sound ist Ty Segall bekannt geworden. Mit, ganz salopp gesagt, Arschtritt-Musik, die einen vom langweiligen Stuhl in den Pogo reintritt. Ty Segall hat selbst mal gesagt, dass er es "so dreckig, wie nur irgendwie möglich" will. Und auch an diesem Abend im Berliner Festsaal Kreuzberg heißt es: Garagen-Rock-Eskalation, bis das Dach wegfliegt.
Dabei sind das da vorne auf der Bühne eigentlich fünf ziemlich normale Typen. Maximal unspektakulär ist Ty Segall selbst. In Jeans und T-Shirt und mit seinen wuscheligen Haaren wirkt er mit 37 immer noch sehr jungenhaft und eigentlich ziemlich unschuldig. Die Band hat auch keine Allüren, ist eher im Halbkreis aufgestellt als rockstar-mäßig nach vorne orientiert. Man macht hier keine Show, man macht: gemeinsam Musik. Tiefe, drückende Power-Akkorde bilden häufig die Grundlage, darüber tirilieren die Solo-Gitarren, hohe, jaulende, fiepende, wimmernde Töne, die sich umspielen oder gemeinsam um die Wette heulen. Dazu ein schonungslos nach vorne peitschendes Schlagzeug und die Stimme von Ty Segall, die zwar auch gut reibeisig sein kann, aber eigentlich klassisch schön ist – hell, hoch, klar.
Die Songs wechseln zwischen ultra-schnellen, punkigen Titeln und düster-langsamen, voluminösen Brechern. Wenn die Wucht-Nummern durch den Festsaal ballern, dann fliegen die Becher. Allerdings ist Ty Segall auch niemand, der sich auf seinen Lorbeeren ausruht. Seit 2008 hat er 15 Solo-Alben veröffentlicht, dazu ist er noch in vielen anderen Projekten aktiv. Was seine Musik dabei schon immer ausmachte, war, dass hinter der brachialen Oberfläche häufiger einfallsreiche und ambitioniertere Rhythmen und Songstrukturen stecken, als man das so auf's erste Hören denkt.
Und mittlerweile ist Segall auch schon lange weg vom reinen Garagen-Rock. Er hat in den letzten Jahren viele Genres in seiner Musik verarbeitet, Country, Psych-Rock und Folk zum Beispiel. Und ganz aktuell: Progressive Rock. All das baut die Band auch in dieses Konzert ein. Und das ist auch alles fein bis fantastisch, aber man merkt schon, dass die Menge danach lechzt, wieder von der nächsten Dampfwalze geplättet zu werden.
Manchmal allerdings fühlt man sich auch ein bisschen wie im Proberaum, wenn die Band in längere Jams verfällt und das Gegniedel auf den Gitarren zwar immer noch nett anzuhören ist, aber ein bisschen der Drive des Abends und die Aufmerksamkeit verloren geht. Aber das ist Kritik auf höchstem Niveau. Denn es ist ja immer klar: Der nächste – den ganzen Körper in euphorisch zitternde Vibration versetzende – Arschtritt, er kommt bestimmt.
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.07.2024, 7:55 Uhr
Beitrag von Jakob Bauer
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