Ein Orchester bringt den brasilianischen Urwald zum Erklingen
Das Sao Paulo Symphony Orchestra eröffnete in der Berliner Philharmonie die 20. Ausgabe des Berliner Musikfests - spielerisch, sinnlich und künstlerisch auf höchstem Niveau. Ein Star des Abends fehlte aber. Von Andreas Göbel
Amerika als Motto – da hätte man üblicherweise als Auftakt vielleicht das New York Philharmonic oder das Orchester aus Cleveland erwartet. Wenn jetzt Festivalchef Winrich Hopp zum Auftakt des Berliner Musikfestes 2024 am Samstagabend nach Brasilien schaut, ist das eine Setzung. Und eine gute. Das Sao Paolo Symphony Orchestra gibt es seit 70 Jahren, und mit dem Schweizer Dirigenten Thierry Fischer hat man dort seit vier Jahren einen guten Namen.
Absolute Qualität
Was auf dem Programm steht, verlangt absolute Qualität, und die kann das Orchester unter seinem Chefdirigenten auch bieten. Gleich der Auftakt mit "Central Park in the Dark" von Charles Ives ist grandios abgezirkelt. Die über weite Strecken gedeckten Farben sind großartig ausbalanciert, da verschwimmt nichts. Thierry Fischer legt größten Wert auf absolute Durchhörbarkeit, das Orchester frisst ihm geradezu aus der Hand.
Das dem Festival titelgebende Stück "Amériques" von Edgard Varèse stand am Ende des offiziellen Programms, und es ist ein Farbpanorama allererster Güte, gigantisch besetzt – die gesamte Bühne ist brechend voll, eigentlich könnte man Platzangst bekommen.
Das Stück hört man hin und wieder einmal, meistens als Krachorgie – aber hier bekommt man es sehr viel differenzierter serviert. Thierry Fischer setzt auf absolute Durchleuchtung. Einzelne Klang-Effekte flackern auf – da sind Sirenen zu hören oder auch mal ein Quietschen wie bei der Berliner S-Bahn im Nord-Süd-Tunnel. Erst in den letzten fünf Minuten entfaltet sich der angekündigte infernalische Lärm, und das ist eine Verdichtung, die sich einem um den Hals legt und mehr und mehr zudrückt. Dem muss man sich aussetzen, das ist eine Erfahrung, die bis auf die Knochen geht. Großartig.
Info
Urwaldvogel
Ein Stück des Abends stammt von dem brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos. "Uirapurú" ist ein mythologischer Vogel aus dem Urwald, der Glück bringt. Wissen muss man das nicht. Das brillant gesetzte Orchesterstück spielt mit Klangfarben, da pfeift, piepst und trällert es. Mal klingt es rhythmisch nach Specht, dann wieder krächzt es rabenartig, und irgendwo scheint sich auch eine schräge Nachtigall verirrt zu haben.
Das ist ein raffiniertes Futter für ein hervorragendes Orchester, besonders für die Solisten, die sich austoben können. Und sie tun es auch, weil sie es können. Das macht Spaß, weil auch dieses Werk auf so phantastischem Niveau gespielt wird.
Wunderbarer Geiger
Für das Violinkonzert von Alberto Ginastera war eigentlich Hilary Hahn als Solistin angekündigt. Sie musste krankheitsbedingt absagen, und der ukrainische Geiger Roman Simovic sprang ein. Natürlich ist es immer schade, wenn Hilary Hahn absagen muss – zumal sie das Konzert auch schon auf CD aufgenommen hat – aber Simovic war ein grandioser Einspringer – mehr als das.
Wie er dieses komplizierte Konzert – ein ziemlich zäher Ochse – interpretierte, als wäre es die leichteste Übung, und das auf klangschönem Niveau zum Dahinschmelzen – das war eine Wohltat. Für den mehr als verdienten Beifall spielte Simovic als Zugabe die Ballade von Eugène Ysaÿe – so wunderbar hat man das lange nicht mehr gehört.
Das Lausitz-Festival soll die Braunkohleregion im Strukturwandel kulturell beleben. Mit einem vielfältigen Programm lockt es alljährlich Gäste an - auch aus der Ferne. In diesem Jahr stehen ab Samstag unter anderem Kafka und Beethoven auf dem Plan.
Gelungene Eröffnung
Was soll man sagen – das war eine Musikfest-Eröffnung, mal ganz anders. Auch von absoluter Qualität, aber diesmal überraschend und phantasievoll – auch in den Ergänzungen. Da bekam man in der Pause brasilianische Kleinigkeiten kulinarischer Natur angeboten, und als Late Night ein Konzert der Big Band des Orchesters aus Sao Paolo, das für gute Laune gesorgt hat.
Das war spielerisch, sinnlich und künstlerisch auf höchstem Niveau. Was will man mehr?