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Theaterkritik | Saisoneröffnung am Gorki
Der Filmemacher Cem Kaya präsentiert am Maxim Gorki Theater nicht nur einen Video-Vortrag über das deutsche Asylrecht, sondern auch eine Reise durch die deutsch-türkischen Beziehungen vom Osmanischen Reich bis heute. Brisant, unterhaltsam – und eine heillose Überforderung. Von Barbara Behrendt
Das Theatralischste bei dieser Saisoneröffnung am Maxim Gorki Theater sind die lebensgroßen aufblasbaren Frontex-Männchen, die zu Beginn heiter von der Bühne winken. Ein sarkastischer Hinweis auf die harte Frontex-Hand, die Menschen an der Grenze stoppt.
Von diesen Luftnummern abgesehen wirkt die Bezeichnung "Video-Lecture-Performance" für diesen Abend mit dem Titel "Pop, Pein, Paragraphen" etwas großspurig. Video-Vortrag trifft es besser. Den hält Filmemacher Cem Kaya (bekannt geworden mit seinem herausragenden Dokumentarfilm "Liebe, D-Mark und Tod") über mehr als zwei Stunden am Rednerpult, Karteikärtchen in der Hand, Leinwand mit Filmmaterial hinter sich. Er zeige, erklärt er frank und frei, schlicht Ausschnitte aus dem neuen Dokumentarfilm, an dem er gerade arbeite. Doch dieses Filmmaterial, von Kaya gegliedert und kommentiert, hat es in sich.
Im Zentrum steht der Fall von Cemal Kemal Altun. Anfang der 1980er Jahre, nach dem Militärputsch, kam der Student als politischer Flüchtling von der Türkei nach Berlin. Sein Asylbescheid wurde positiv bescheinigt, doch die Militärdiktatur wollte, dass er in die Türkei ausgeliefert wird. Daraufhin klagte das Innenministerium unter Friedrich Zimmermann gegen den Asylbescheid. Cemal Altun musste 13 Monate in Abschiebehaft und sprang schließlich vor laufenden Kameras im Oberverwaltungsgericht aus dem 6. Stock in den Tod, aus Angst vor der Auslieferung. In der Türkei erwartete ihn eine lange Haft und Folter. Die türkische Anklage stellte sich später als gefälscht heraus, Altun hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen.
Die Archivbilder von Altun im Gerichtssaal lassen das Herz stocken. Ein schöner, zarter junger Mann sitzt schüchtern in der Bank. Ein einziges Foto zeigt, wie er plötzlich zum Fenster stürzt. Es folgen Bilder von den Demonstrationen in Kreuzberg nach seinem Tod. Wir hören die anklagenden Worte des Pfarrers Jürgen Quandt bei der Beerdigung: Er schäme sich, dass eine Partei mit angeblich christlichen Werten diesen Tod zu verantworten habe. Wir sehen Cemal Altuns Anwalt, Wolfgang Wieland, später Bürgermeister in Berlin, der bei seiner Grabrede die grausamen Türkenwitze zitiert, die er in seiner Umgebung hört – und das Klima in der Gesellschaft anprangert.
Lehrreich, bewegend, empörend ist es, wie sich die Politik über geltendes Recht versucht hat hinwegzusetzen. Doch das ist nur ein Teil des Abends. Und hier beginnt das Dilemma: Cem Kaya will viel zu viel verhandeln. Er möchte nicht weniger als die deutsch-türkischen Beziehungen vom Osmanischen Reich bis heute erklären – ein Thema, das Bibliotheken füllt.
Statt beim Thema Asyl zu bleiben, das nicht nur die heutige Gesellschaft spaltet wie kaum ein anderes, möchte er auch die Gastarbeitergeschichte aus ihren Anfängen heraus aufdröseln, den Rechtsradikalismus der 1980er und 1990er Jahre verorten, die diktatorische Türkei erklären, in die Cemal Altun nicht zurückkehren möchte. Und doch auch zeigen, wie stark ausgeprägt die Popkultur in der Türkei der 1980er Jahre war. Hier kommt sein Filmkollege Ekim Acun ins Spiel und steuert einen bunten Strauß aus vielfältigem Filmmaterial bei. Vieles ist hochinteressant: Wie der Präsident Turgut Özal etwa den Turbokapitalismus in die Türkei gebracht und für eine apolitische Bewegung gesorgt hat, in der sich die Menschen hauptsächlich für die amerikanischen Importe der Serien Dallas und Denver Clan interessieren. Eine Stadt, referiert er, rief gar per Lautsprecher aus, wer den fiesen Öl-Baron J.R. Ewing umgebracht hat.
Doch wenn nach über zwei Stunden das wichtige, grauenvolle Kapitel vom Genozid an den Armeniern mit deutscher Billigung aufgemacht wird, raucht einem längst der Kopf. Es mangelt dem Abend nicht an Inhalt, sondern an Form, an einer Dramaturgie-Abteilung, die den Bühnen-Laien Cem Kaya formalästhetisch berät und führt. Denn aussagekräftig ist der Vortrag allemal.
Kaya stellt zuletzt folgende Verbindung her: Während sich der Großwesir Talât Pascha nach seinen Verbrechen an den Armeniern in Berlin zunächst ein schönes Leben machen konnte, wurde ein Asylsuchender wie Cemal Altun (Jahrzehnte später) in die Verzweiflung getrieben. Die Beziehungen zur türkischen Regierung, so wertet Kaya auch die Zitate von Helmut Kohl bis Walter Steinmeier, die er präsentiert, sind Deutschland stets wichtiger gewesen als der Schutz der Migrant:innen.
Eine vehemente Kritik am Asylrecht in Deutschland, ein Abend, der aufklären will – auch wenn er im deutsch-türkischen Publikum des dezidiert postmigrantischen Gorki Theaters nur die erreicht, die ohnehin ähnlicher Meinung sind. Mit diesem Vortrag die Saison zu eröffnen, ist ein Statement: zugunsten des politischen Diskurses – fernab der Theaterästhetik.
Sendung: rbb24 Inforadio, 07.09.2024, 7:55 Uhr
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