Konzertkritik | Chappell Roan im Velodrom
Vor nicht mal einem Jahr hat die US-Amerikanerin Chappell Roan noch im relativ kleinen Frannz Club in Berlin gespielt. Montagabend ist sie im vielfach größeren und ausverkauften Velodrom aufgetreten. Jakob Bauer hat ein gutes, aber nicht überragendes Pop-Konzert gesehen.
Dass da gerade was Großes passiert, merkt man daran, dass nur der Typ mit dem Wischmopp, der die Bühne vor der Show nochmal schnell saubermacht, schon Jubelstürme auslöst. Die Leute feiern alles, sie sind so vorfreudig und losgelöst und kurz vor dem Durchdrehen, weil gleich sie auf der Bühne des Berliner Velodrom steht: Chappell Roan.
Chappell Roan ist innerhalb kürzester Zeit zur queeren Gallionsfigur geworden. Die 26-jährige hat sich, wie sie es empfindet, aus einem konservativen Umfeld "befreit", sich als lesbisch geoutet und seitdem alles künstlerisch ausgelebt und ausprobiert, was Stereotype aufbricht. Sie spielt lustvoll mit gesellschaftlichen und geschlechtlichen Normen und treibt‘s dabei mit Absicht volle Möhre auf die Spitze. Theatralisch, dramatisch, extravagant ist sie schon als Nonne, Barbie, in einem futuristischen Space-Anzug und als Fee aufgetreten.
Alles kann, alles darf gleichzeitig nebeneinander existieren, ob real ersehnt oder gespielt, parodiert oder kritisiert, ist egal. In diesem Chaos der Identitäten, dem "Alles geht", liegt ihre Ästhetik.
An diesem Abend trägt sie ein Art Korsett-Body und kiloweise silberblauen Glitzer auf den Augenlidern. Dabei hat sie nicht mal das ausgefallenste Outfit. Man fühlt sich wie auf einer facettenreichen queeren Modenshow. Nackte Haut und Glitzer, Netzhemden und Pailletten überall, ob alberner rosa Plüschhut mit Lichterkette oder genau aufeinander abgestimmtes Latex-Dress, der Fantasie des Publikums sind keine Grenzen gesetzt. Und der Euphorie auch nicht.
Pausenloses schallt es jauchzend durch das Velodrom, tausende Stimmen können alles mitsingen, können natürlich auch den Tanz zum Hit "Hot To Go!". Das schaut dann ein bisschen so aus, als würde die ganze Halle "Head And Shoulds Knees And Toes" machen.
Chappell singt von dem Gefühl, in der Gesellschaft in die Heterosexualität gezwungen zu werden, von einer Frau, die versucht, ihre romantischen Gefühle für Frauen zu unterdrücken. Aber auch von heißen Partynächten und der Leidenschaft, den oder die Ex Leiden zu sehen – Karma Is My Kink! Und sie hält die obligatorische, aber deswegen nicht weniger berührende "Du kannst sein, wer du willst, dich anziehen, wie du willst und küssen, wen du willst"-Empowerment Rede.
Sie hat nicht nur stumpf Moderationen einstudiert, sondern wirkt ehrlich berührt von der Stimmung, von den Menschen im Raum, denen sie so viel bedeutet. Denen sie zum Teil anscheinend geholfen hat, sich zu ihrer Identität zu bekennen. "Chappell turned me gay" steht auf einem Schild – "Good" sagt Chappell, die Arena lacht. Manchen bedeutet das hier echt die Welt.
Die rein weibliche Band spielt – auch wenn ohrenscheinlich einiges ehrlich gesagt ein bisschen viel vom Band kommt – perfekt. Chappell singt perfekt, ausdrucksstark. Allerdings ist der Abend nicht so ausgefallen und so inspirativ, wie erwartet. Eher authentisch als artifiziell. Es gibt sie, die schön übertrieben kitschig-albernen Momente, wenn auf der Riesenleinwand ein Videoclip zu sehen ist, in dem Roan mit einem Motorrad über eine Kuhweide heizt, wenn Kuschelbärchen mit Herzchen eingeblendet werden oder Roan ein Duett mit einer Perücke singt.
Wenn Sachen neu vermischt und zusammengebracht werden und so eine produktive Irritation entsteht. Aber im Großen und Ganzen ist das hier eine erstaunlich klassische, eher minimalistische Pop-Show. Es gibt keine Extras, keine einstudierten Nummern, keine wilden Verkleidungen. Roan singt, tanzt, springt umher, die Band spielt.
Und das funktioniert auch, weil die Songs gut sind. Synthie-Pop mit 80er Vibe und rockigen Elementen, Dance-Hymnen und Mid-Tempo Balladen. Eine Mischung aus dem besten, was Pop so die letzten Jahre hervorgebracht hat: Dua Lipa, Lady Gaga, vielleicht ein bisschen Lana Del Rey.
Vieles mit Ohrwurmcharakter. Aber trotzdem wirkt das musikalisch noch nicht ganz so stilprägend, frisch und nachhallend wie bei den vorher genannten. Es wird spannend sein zu sehen, wo das noch hingeht. Ob die exzentrische und unvorhersehbare Performance-Ikone Chappell Roan oder die gute, aber auch etwas erwartbare Musikerin Chappell Roan die Oberhand behalten. Oder ob sie alles langfristig zum großen Gesamtkunstwerk zusammenführen kann und etwas Neues, Eigenes entsteht.
An diesem Abend jedenfalls ist es ein echt gutes, wenn auch nicht überragendes Pop-Konzert, mit ordentlich Empowerment und begeisterten Fans, die noch auf dem Weg zur S-Bahn in lauten Sprechchören die Songs ihrer Chappell in die Berliner Nacht schmettern.
Sendung: rbb24 Inforadio, 24.09.2024, 07:55 Uhr
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