Premierenkritik | "Kleiner Mann, was nun?"
Frank Castorf treibt Hans Falladas rührendem Wirtschaftskrisenklassiker "Kleiner Mann, was nun?" die Hoffnung und den Glauben an die Liebe aus. Von Barbara Behrendt
Es wäre ja zu schön gewesen. Hoffen konnte man freilich nicht darauf. Dass Frank Castorf seine Inszenierung "Kleiner Mann, was nun?" am Berliner Ensemble mit der Liebe von Pinneberg und Lämmchen enden lassen würde, wie es der Roman vorgibt. Dass er dem kleinen Angestellten, arbeitslos, von der Polizei vom Platz gejagt wie ein Penner, den Trost seiner Frau spüren lassen und dann den Vorhang fallen lassen würde. "Und dann gehen sie beide ins Haus, indem der Murkel schläft", endet Hans Falladas Roman.
Castorf belässt es natürlich nicht dabei. Er fügt an das warme Ende der Pinnebergs das eiskalte Ende des Ehepaars Ursula und Hans Fallada. Hans, morphiumsüchtig und zwischen Selbstmordversuch, Psychiatrie und Krankenhaus angelangt, bekommt von seiner ebenfalls süchtigen (zweiten) Ehefrau versehentlich zu viel Schlafmittel verabreicht und stirbt mit 53 Jahren. Ursula, deren zweite Ehe scheitert, stirbt mit 35 Jahren: entmündigt und mit einem Begräbnis vom Sozialamt. Ihr Grab auf dem Friedhof in Neukölln, so endet Castorf, existiert nicht mehr. Der Titel eines anderen Klassikers liegt da in der Luft, den Fallada am Ende seines Lebens in der Psychiatrie geschrieben hat: Jeder stirbt für sich allein.
Nun kommt es nach knapp fünfeinhalb Stunden nicht überraschend, dass der Dekonstruktivist, Fatalist und Zyniker Frank Castorf die redlichen Hauptfiguren des Romans kaum ernst nehmen kann. Er hält es da mit zwei seiner Säulenheiligen, Heiner Müller und Bertolt Brecht: Wo die Verhältnisse den Menschen zum Tier machen, zählt nur das Fressen, nicht Moral und schon gar nicht so etwas wie Liebe (letztere gibt es ohnehin nicht im Castorf-Bühnenkosmos).
Weit mehr interessiert er sich für den Exzess und die Sucht, im Buch eher eine Randerscheinung. Das Irrlichtern und Irrewerden in und an der Welt. Deshalb verknüpft er den Roman immer wieder mit Hans Falladas Sucht und Depression – und mit einem Text Falladas, der gegensätzlicher zum leisen, melancholischen, rührseligen "Kleiner Mann, was nun?" nicht sein könnte. "Die Kuh, der Schuh, dann du" ist ein früher, expressionistischer Text, den Fallada auf Kokain geschrieben haben soll, ein autobiografisch geprägter Stream of Consciousness voll von Trieben und Zwängen, aber auch voll von roher Poesie. "Damals, als ich noch Kuh war…" – so lautet der erste Satz.
Von Exzess ist in Alexander Denićs Bühnenbild diesmal nichts zu finden. Kein buntes Bauwerk kreist hier wie sonst als Kunst-Installation über die Drehbühne. Castorf hatte
sich eine leere Bühne gewünscht, die von universeller Einsamkeit erzählt. Und so stehen die sieben Schauspieler:innen in ihren Revuekleidern mit Federn, Perlen und Glitzer tatsächlich in einem leeren Raum, dessen Weite sie immer wieder schreiend vermessen. Zu Beginn ist es der junge Jonathan Kempf, der hier Eindruck macht: als früher Fallada auf Koks, der die irren Worte seiner "Kuh"-Novelle unter höchstem körperlichem Druck herauspresst.
Die Live-Videos nehmen sich dagegen die Unterbühne zum Bühnenbild. Wie ein düsterer Bunker wirkt sie auf den Bewegtbildern. Hier wohnt Mutter Mia Pinneberg – von Castorf grell überzeichnet. Nicht nur die exaltierte Person aus dem Roman ist sie hier, sondern ein morphiumsüchtiges Wrack, abhängig von ihrem Dealer und Liebhaber Holger Jachmann, dem sie sogar einen Revolver besorgt. Wie Artemis Chalkidou und Andreas Döhler dieses abgehalfterte Proleten-Gangsterpaar in der Drogenhölle spielen, er blutverschmiert, sie die meiste Zeit nackt in der Dusche, das ist schon großes Kino.
Wenn dann der brave Pinneberg-Sohn in diese Szene hineinplatzt, von Jonathan Kempf als stocksteifer Spießbürger mit Nickelbrille karikiert, ist das tatsächlich abgründig komisch. Überhaupt haben die fünfeinhalb Stunden viele Pointen und Zuspitzungen zu bieten und ziehen sich weniger schleppend dahin als das bei Castorf-Inszenierungen normalerweise der Fall ist. Was selbstredend auch am ausdauernd großartigen Ensemble liegt: Gabriel Schneider als der geprügelte, zarte, menschliche Teil Pinnebergs – während Maximilian Diehles Pinneberg in einem gruseligen Zwischenreich zu Hause scheint. Das redliche Lämmchen, die brave Ehefrau, blitzt bei Pauline Knof eher ironisch auf, während Maeve Metelka sie als grobschlächtige, resolute Proletenfrau auf die Bühne schleudert.
So wenig sich Castorf für das Liebesband zwischen den Hauptfiguren interessiert, so deutlich pinselt er die politische Dimension des Stoffs. Das Ensemble marschiert zuweilen mit KPD- und Nazi-Titelseiten um den Hals gehängt wie Zeitungsjungens auf. Und die schrille Szene, in der Lämmchens stramm kommunistischer Proletenvater auf den apolitischen Angestellten Pinneberg trifft, der noch nichts von Solidarität im Arbeitskampf wissen will, ist zentral. Wie kommt‘s, dass die damals linke Arbeiterschaft heute tendenziell extrem rechts wählt?
Der wachsende Judenhass zieht unheilschwanger durch die Szenen. Die Nazis, so positioniert sich eine Figur von Andreas Döhler, wählten nur "die Dummen". Den pauschalen Hass auf "die da Oben" feuert Castorf allerdings an. Immer wieder werden anarchistische Punk-Songs eingespielt – und das Publikum applaudiert, als gesungen wird: "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer war mit dabei? Die grüne Partei!" Ein Spruch, der in den 1920ern nicht nur von Kommunisten skandiert wurde, sondern auch von Nazis – nur der erste Teil natürlich, denn die Grünen gab es längst noch nicht. Castorf inszeniert also viel zu brachial und plakativ, als dass daraus eine politische Analyse erfolgen könnte.
So fantastisch das Ensemble aufspielt – es hilft nur bedingt darüber hinweg, dass Castorfs anarchistische Weltsicht, die plumpen Parolen, die ungenauen Aussagen, an unsere Gesellschaft, von rechtsextremen Parteien bedroht, nicht wirklich andocken kann.
Aber was interessiert Frank Castorf das Publikum – Hauptsache, er ist glücklich. Und so lässt er Andreas Döhler augenzwinkernd an die Rampe sprechen: "Ich will euch ja nicht auf den Sack gehen. Aber ein deutliches Mal fühle ich mich in diesen Jahren, nach so vielen Inszenierungen, ganz im Einklang mit mir. Es gibt keine Zerrissenheit, keinen Zweifel mehr… Ich bin wirklich glücklich."
Na, dann.
Sendung: Inforadio, 16.09.2024, 7:40 Uhr
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