Ein Wasserschaden im Berliner Ensemble zerstörte Anfang des Jahres den gesamten Bühnenboden in dem altehrwürdigen Theater. Der Illustrator Christoph Niemann hat daraus jetzt ein riesiges Wandkunstwerk gemacht. Von Hendrik Schröder
Auf den ersten Blick wirkt das alles relativ unspektakulär. Da hängen einfach sechs große, alte, rissige, Panele aus Holz an der Wand in der Kantine des Berliner Ensemble (BE), unweit der Friedrichstraße. Abstrakte Figuren sind drauf gemalt. - Ja. Nett.
Wie genial das alles gemacht ist, erkennt man erst auf den zweiten Blick. Oder auf den zehnten. Und vielleicht erzählt man die Entstehungsgeschichte des Kunstwerks am besten von vorne: BE-Intendant Oliver Reese wollte die Kantine des Theaters schon länger renovieren und aufhübschen. Und ebenso lange hatte er den Künstler Christoph Niemann im Auge.
Denn dieser hatte einst den Innenraum der Deutschen Oper gezeichnet, das hatte Reese beeindruckt. Dass Nieman regelmäßig eine Art "Tag der offenen Tür" in seinem Atelier in Berlin Mitte veranstaltete, wusste Oliver Reese durch Zufall. Also schlenderte er einiges Tages hin, sagte: "Ich bin der vom Theater und finde ihre Sachen toll. Wollen Sie nicht mal zu mir in das Berliner Ensemble kommen, vielleicht fällt Ihnen dazu auch etwas ein." Niemann wollte. Die beiden machten einen Termin aus.
Aber dann kam der 5. April 2024. In der Pause eines Stückes geht ohne Anlass die Sprinkleranlage im BE los und gießt in kürzester Zeit 15.000 Liter Wasser auf den Bühnenboden. Totalschaden. Niemanns Besuch war nur wenige Tage später angesetzt. Reese überlegte zu verschieben, aber Niemann kam trotzdem, sah sich alles an, nahm alles "wertfrei in sich auf" und sagt am Ende: "Kann ich den kaputten Boden haben? Das… wird mein Kunstwerk für die Kantine." "Der Boden hat es ja", sagt Niemann heute rückblickend beim Pressetermin, "der Boden hat Patina, der hat Geschichte. Da habe ich in diesem Boden nicht nur die Geschichte des Theaters, sondern auch die vom Wasserschaden."
Quelle: dpa/Kausche
Aussägen und anmalen
Niemann lässt also 6 x 5 Quadratmeter aus dem Boden sägen. Genau die Größe der Wandfläche in der BE Kantine, die "bespielt" werden soll. Er zeichnet Pläne für die Bühnenmalerin, die seine Ideen am Ende umsetzt. An welcher Stelle hier also was... wie... eingesägt, was... wie... lackiert und angestrichen werden soll. Die Geschichte des Bühnenbodens soll dabei unbedingt erhalten bleiben. Die Farben lehnen sich an die vorhandenen Farben in der Kantine an. Heller Holzboden, rote Tische, schwarze Bänke, weiße Decken.
Die abstrakten Figuren sind nur auf den ersten Blick beliebig, alle zeigen Theaterszenen, Publikum, Drama. Und den Hai mit seinen Zähnen. Eine Anspielung natürlich an die Dreigroschenoper und die Moritat von Mackie Messer.
Nachdem Wassermassen in den Bühnenraum des Berliner Ensembles eingedrungen sind, spricht das Theater von einem Millionenschaden. Viel Technik wurde zerstört. Dazu kommen Einnahmeeinbußen, weil Vorstellungen abgesagt werden müssen.
Kerben, Wunden, Narben
"Das sind dann wirklich Feinheiten, wie bei dem Haifisch. Das mag ich auch, dass man das aus der Entfernung erst sieht. Ich wollte, dass die Zähne nur gesägt sind. Die obere Reihe haben wir zwei mal lackiert, die untere ein Mal lackiert. Da kann man wahrscheinlich neun Mal hier sitzen und sieht gar nicht, dass das ein Hai ist und das da drüben das Messer von Mackie Messer, das ist ja nur eingesägt, nicht gemalt, das fällt einem dann erst beim zehnten Mal auf", sagt Niemann begeistert. Zurecht. Eine wahrscheinlich einmalige Idee, aus einem demolierten Bühnenboden ein 30 Quadratmeter großes Wandkunstwerk mit derart vielen Details zu schaffen und die Original Patina, all die Kerben, Wunden und Narben des jahrelang bespielten Bodens einzubauen und weiterleben zu lassen. Stark.
Die Kantine des BE befindet sich am Bertholt Brecht Platz und ist täglich bis Mitternacht geöffnet. Der Eintritt ist frei.