Leider gibt es ein Problem beim Abspielen des Videos.
Heimathafen Neukölln
Das Weltgeschehen wird von Katastrophen und Kriegen dominiert. Da lädt der Heimathafen Neukölln zum Krisenstab und wagt einen tollkühnen gesellschaftlichen Neustart. Da heißt es "The Great Reset". Von Corinne Orlowski
"The Great Reset"? Warten Sie mal, das kommt mir bekannt vor. Hat den Begriff nicht der Direktor des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, 2020 verwendet? Wollte der nicht die Corona-Pandemie als Gelegenheit nutzen, eine neue Weltgesellschaft zu entwerfen? Eine Welt, die gerechter und nachhaltiger ist? Blöd nur, dass Verschwörungstheoretiker bald vermuteten, globale Finanzeliten hätten Covid nur erfunden, um die Bevölkerung auszutauschen.
Das Musiktheaterkollektiv "mehrblick&ton" möchte den Begriff jetzt aus der Verschwörungs-Schmuddelecke holen und positiv besetzen. Her mit dem schönen Leben. Ja, die völlige Erneuerung der Welt ist möglich, so wie es René Pollesch und Fabian Hinrichs an der Berliner Volksbühne 2019 proklamiert haben. Und, so heißt es, Weltuntergang ist ja schließlich auch keine Lösung. Dafür wurde eigens das Bundesamt für Neuanfang gegründet – kurz: "BufNeu".
Wer will angesichts der Kriege und Krisen nicht mal die Stop-Taste drücken oder gleich sagen: zurück auf Anfang. Es kribbelt in den Fingern, denn in der Mitte des Saals steht ein roter Buzzer. Wer den drückt, startet den Neuanfang. Aber bevor es soweit ist, Erleben wir einen wilden Ritt: eine Mischung aus glamourösem Rock-Konzert, interaktivem Sprechtheater, Performance und Tanz.
Das Publikum im Heimathafen blickt nicht frontal auf die Bühne. Ein Steg teilt den Saal in zwei Hälften. Und so sitzen sich die knapp 170 Menschen gegenüber, verteilt an kleinen Tischen wie bei einer Gala oder beim Kabarett. Zwei Schauspielerinnen in glitzernden Abendkleidern laufen den Steg hoch und runter, animieren des Publikum miteinander zu interagieren. Sie erklären: "Wir haben das Schlimmste hinter uns, der Untergang ist eingetreten. Wir proben den Neuanfang."
Dafür wird das Publikum auch mal zu einem Bürgerrat umfunktioniert, der zu fünf moralischen Fragen Stellung beziehen soll. Fragen, die keine KI beantworten sollte, zu den Themenkomplexen: Klima, globaler Wohlstand, Extremismus, Mitbestimmung und Geschlechtergerechtigkeit. Spannend, mitzuerleben, wie in kleinen Gruppen und in nur 10 Minuten ein Konsens gefunden werden muss.
Es wird einem wieder vor Augen geführt: Man ist Teil der Demokratie, sie ist aber nicht dafür da, einem zu geben, was man will. Eine Stimme allein ist nicht entscheidend. Die Aushandlung ist der Prozess, den man aber mit gestalten kann.
Wie ein Neustart gelingen könnte, dafür hat "The Great Reset" keine Lösung parat. Denn die Demokratie soll ja schließlich nicht infrage gestellt werden. Den optimalen Gesellschaftsentwurf gebe es nicht, denn für jeden bedeute er etwas anderes. So vergehen die 2,5 Stunden mit Pause wie im Flug. Auch, weil der Abend nicht so bierernst sein will. Aber das muss doch nicht gleich in so einem grotesken Klamauk enden. Die Spieler:innen wetzen den Steg hoch und runter, schreien, improvisieren.
Eine Einlage jagt die nächste. Doch der Funke will oft nicht überspringen. Ein bisschen Weltflucht und Humor sind bei all den Katastrophen ja willkommen, aber wollte der Abend nicht mehr? Bei all dem Pointenfuror tritt die wichtige Debatte um gesellschaftlichen Aufbruch, mehr und mehr in den Hintergrund. Damit verspielen sie das große Potenzial ihrer Idee eines positiv besetzten Neustarts und führt das Kollektiv ad absurdum. Alle klugen Wortbeiträge zu Demokratie und Gerechtigkeit versanden. Und so verpufft die tollkühne Feier des Neuanfangs leider zur Nummernrevue.
Sendung: Radio 3, 12.20.2024, 07:40 Uhr
Artikel im mobilen Angebot lesen