Der Fotograf und Künstler Jürgen Baldiga | Audio: radioeins | 30.11.2024 | Quelle: salzgeber/Schwules Museum Berlin/Leihgabe Aron Neubert
Interview | Filmregisseur Markus Stein über Baldiga
"Es ist ihm einfach klar geworden, dass seine Sexualität Tod bedeuten kann"
Der Fotograf Jürgen Baldiga wurde nach seiner HIV-Diagnose und bis zu seinem frühen Tod Chronist der West-Berliner Schwulenszene. Der Regisseur Markus Stein hat einen Film über ihn gedreht und spricht im Interview über Baldigas "entsichertes Herz".
Jürgen Baldiga zieht Ende der 1970er-Jahre nach West-Berlin, um Künstler zu werden. Mit seiner HIV-Infektion entdeckt er 1984 die Fotografie. Bis zu seinem frühen Tod 1993 fängt er die sagenumwobene Schwulenszene im West-Berlin der 80er- und frühen 90er-Jahre so einfühlsam und authentisch ein, wie niemand sonst. Markus Stein zeichnet mit seinem Dokumentarfilm "Baldiga – Entsichertes Herz" ein lebendiges Porträt des radikalen und komplexen Künstlers und seiner Zeit.
rbb|24: Herr Stein, was hat Sie an Jürgen Baldiga so fasziniert, dass Sie den Film drehen wollten?
Markus Stein: Was uns so fasziniert hat, war die Unmittelbarkeit, mit der er in der Zeit fotografiert hat. Wir als Dokumentarfilmer haben natürlich auch die große Chance darin gesehen, ein Tagebuch von ihm zu haben. Das ist ein sehr langes Dokument, um die 7.000 Seiten. Da hast du eine Innenbeschreibung dieser Zeit und der Aids-Krise, die so unmittelbar, so direkt und auch so ehrlich ist mit sich und anderen. Da war für uns klar, dass wir diesen Film machen mussten.
Bild: salzgeber/Schwules Museum Berlin/Leihgabe Aron Neubert) | Quelle: salzgeber/Schwules Museum Berlin/Leihgabe Aron Neubert)
Was für einen Blick hatte Baldiga durch die Kamera?
Einen unmittelbaren, einen sehr direkten, also auf Augenhöhe. Er war immer sehr nah an diesen Leuten dran. Und du merkst immer dieses Einverständnis, mit dem sich Fotograf und Fotografierter begegnen. Das ist ganz toll. Das ist aber auch ein Kunstkniff. Meine Lieblingsentdeckung war ein Porträt von einem jungen Mann, nackt, mit Ratte auf der Schulter. Da dachte ich "Boah, Schnappschuss. Er hat genau diesen Moment erwischt. Ganz fantastisch".
Als wir dann im Archiv des Schwulen Museums waren und uns diese Fotos und die Negative angesehen haben, habe ich aber bemerkt, dass er eineinhalb Filme mit dem Motiv verknipst hat. Er hat es trotzdem geschafft, diese Unmittelbarkeit zu erhalten - obwohl er Foto nach Foto schießt - sodass man wirklich daran glaubt, dass er diesen Moment in einem Augenblick als Schnappschuss gefunden hat. Das ist toll.
Zur Person
Wen hat er denn da fotografiert?
Am Anfang hat er Straßenfotografie gemacht, vor allem wildfremde Leute. Erst mit einem langen Objektiv von ganz weit weg. Dann hat er Leute angefangen anzuquatschen und sie gefragt, ob er sie fotografieren darf. Da hat er Leute kennengelernt, die ihn dann später mit ins Schwuz [Anm. d. Redaktion: Queerer Club in Berlin-Neukölln] genommen haben. Dann hat er sehr viel die "Schwuz-Tunten" fotografiert.
Der Film zeigt, wie Baldigas HIV-Infektion und später seine Aids-Krankheit ihm einen künstlerischen Schub gab. Können Sie sich das erklären?
Das kann man eigentlich nur raten. Aber das ist ganz klar, wenn du mit 24 Jahren eine Diagnose kriegst, die sagt: "In zwei Jahren bist du tot, Punkt" - so war das damals - dann fängst du an, über das Leben nachzudenken. Ein 24-Jähriger, der so eine Erfahrung nicht gemacht hat, der ist jung und lebt vor sich hin. Dass Baldiga irgendwann mal älter wird, daran hat niemand geglaubt. Dann fängst du sofort an, anders darüber nachzudenken und gehst durch sehr viele Höhen und vor allem durch sehr, sehr viele Tiefen. Das kann man in dem Tagebuch auch lesen.
Der Charité ist es gelungen, einen zweiten Menschen von HIV zu heilen. Am Mittwoch stellte der Arzt Christian Gaebler den Fall auf der Welt-Aids-Konferenz vor. Im Interview erläutert er die Hintergründe und inwieweit er Hoffnung auf Heilung macht.
Was hat Berlin für ihn bedeutet, als jemand, der aus dem kleinen Westdeutschland ins große West-Berlin gekommen ist?
Ja, vor allem aus Essen als Arbeitersohn. Sein Vater war Hauer. Seine Schwester erzählt es heute noch: Der musste weg. Auch der Vater wusste, der muss da weg, der kann nicht so leben, wie er will. Das war für ihn extrem wichtig. In Berlin hat er erst angefangen, so wirklich zu leben. Dazu muss man sagen, er hat eine Ausbildung als Koch gehabt und damit hat er seine Fotografien und seine Kunst finanziert.
Bild: salzgeber/Schwules Museum Berlin/Leihgabe Aron Neubert) | Quelle: salzgeber/Schwules Museum Berlin/Leihgabe Aron Neubert)
Wie sind Sie auf den Untertitel "Entsichertes Herz" gekommen?
Das ist ein Zitat aus dem Tagebuch. Es ist ihm einfach klar geworden, dass seine Sexualität Tod bedeuten kann, dass er aber auch ohne Sexualität nicht leben kann. Das ist meine Interpretation. Da schreibt er eine ganze Reihe von Begriffen und am Schluss sagt er: "Mein Herz ist entsichert". Ich habe auch das Gefühl, dass diese Gefahr und diese Notwendigkeit von Liebe, dass beides da drinsteckt.