Uraufführung am Maxim Gorki Theater
Der Regisseur Hakan Savaş Mican, Experte für Migrationsgeschichten, verlegt Necati Öziris Debütroman "Vatermal" vom Krankenhaus auf die Showbühne. Kann das gutgehen? Von Barbara Behrendt
Arda hat es in Necati Öziris Roman "Vatermal" geschafft. Er hat seine Clique auf der Parkbank am Bahnhof zurückgelassen - die meisten sind inzwischen im Knast oder irgendwohin abgeschoben. Arda studiert jetzt Literatur in Berlin. Doch als er mit seinen Kommilitonen im Theater sitzt, bricht er plötzlich zusammen.
Als Videoprojektion spulen im Maxim-Gorki-Theater die ersten Minuten des Abends ab: Arda, der in einem düsteren Gang auf zwei Ärztinnen trifft, die ihm sagen: Es sieht schlecht aus. Organversagen. Derweil zieht Arda einen Smoking an und drückt die Klinke zur Theaterbühne herunter.
Als der eiserne Vorhang sich hebt, steht da: der leibhaftige Arda, also der Schauspieler Doğa Gürer, mit Lackschuhen und Fliege auf einer knallroten Bühne. Neben ihm zwei Musikerinnen - sie und die Schauspielerinnen in ebenfalls signalroten 1960er-Jahre-Outfits. Und stimmen erst mal Elvis Presleys Song "A little less conversation" an.
Eine musikalische Erinnerungsshow beginnt. Statt im Krankenhauszimmer treffen Arda, seine Mutter und seine Schwester in diesem surrealen Zwischenreich aufeinander. Bruder und Schwester erzählen aus ihrer Kindheit mit der immer alkoholkranker werdenden Mutter: "Du hast sofort die Wohnung verlassen, als sie wach wurde. So viel Schiss hattest du. Weil man nicht wusste, mit welcher Laune sie aufwacht. Unglaublich, oder? Wir hatten nix zu fressen, und die Alte lag den ganzen Tag rum."
Als die Beziehung zwischen Mutter und Tochter eskaliert, zieht die Tochter zu Pflegeeltern. Seinen Vater hat Arda nie kennengelernt. Er war als politisch Verfolgter nach Deutschland gekommen - trat aber nach ein paar Jahren lieber seine Haftstrafe in der Türkei an, statt sich in der Fleischfabrik kaputt zu schinden.
Der Autor und Dramaturg Necati Öziri ist eng mit dem Maxim-Gorki-Theater verbunden. Er hat einige Jahre die Studiobühne geleitet, und in der Schreibwerkstatt des Hauses ist sein Stück "get deutsch or die tryin" entstanden - und am Gorki inszeniert worden. Klar, dass hier nun auch sein Roman "Vatermal" zur Uraufführung kommt, der prompt auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelandet ist.
Sowohl im Theaterstück als auch im Roman arbeitet sich Öziri an der Leerstelle Vater ab. Im Stück imaginiert der Sohn die Rede, die er ihm am Grab halten würde. Im Buch ist es der Sohn selbst, der im Sterben liegt, und einen Brief an den Vater schreibt. Überhaupt hat Öziri fast das komplette Personal vom Stück in den Roman übernommen, das nun quasi auf die Bühne rücktransferiert wird.
Weil es über den Vater wenig zu erzählen gibt, bekommt dann aber die Lebensgeschichte der Mutter den meisten Raum. Ihre Familie wird nach einem Erdbeben in der Türkei obdachlos, die Eltern ziehen nach Deutschland und lassen die Tochter bei der hartherzigen Tante zurück. Als sie nach Deutschland nachkommen darf, lernt sie dort Metin kennen. Auf das erste Glück folgen Gewalt, Spielsucht, Schulden. Die großen Träume schwinden.
Auf der Bühne spielen Doğa Gürer, Sesede Terzyan und Flavia Lefèvre die Erinnerungen in Rückblenden nach. Der Regisseur Hakan Savaş Mican, Experte für türkische Migrationsgeschichten, lädt die Szenen wie immer mit viel Gefühl auf und setzt dabei ganz auf sein gutes Ensemble. Und auf die emotionale Kraft der Musik. Wobei sich kaum erschließt, warum hier hauptsächlich die amerikanischen Hits der 1960er Jahre gespielt werden, von Elvis Presley bis zu "Happy Together" von den Turtles.
Auch die Idee, den Roman auf eine artifiziellen Showbühne zu verlegen, erweist sich als problematisch. Schon klar, dass Mican keinen dahinsiechenden Mann im Krankenhaus abbilden möchte. Doch die Konzert-Bühne zieht eine konstruierte Ebene zum Publikum ein, die der Regisseur dann mit überzuckerter Sentimentalität zu überwinden versucht.
Zwar ist die Sterbebett-Situation schon im Roman eine klischierte Konstruktion, doch immerhin verhandelt Öziri in "Vatermal" auch die realistischen Härten des migrantischen Lebens: den Rassismus, die auf Ausländerämtern vergeudete Lebenszeit, die mangelnden Chancen für die jungen Postmigrant:innen. Auf der Bühne dringt das im Smoking-Ambiente kaum durch.
Mican überdreht aufs große Pathos. Zuletzt wird Arda mit dem Liebeslied "Dreams Dreams Dreams" von den Everly Brothers ins Schattenreich geholt. Bei aller Liebe für Micans gefühlvolles, menschenfreundliches Theater - diese angestrengte Überemotionalität ist dann doch "too much". Und zu weit weg vom wirklichen Leben.
Sendung: radio 3, 22.12.24, 8:30 Uhr
Beitrag von Barbara Behrendt
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