Fazit | Berlinale 2024
Die Ära Chatrian/Rissenbeek endet mit einem ganz normalen Berlinale-Programm – und einer überzeugenden Preisvergabe. Nachfolgerin Tricia Tuttle wird es nicht leicht haben dort anzuknüpfen - aus mehreren Gründen. Von Fabian Wallmeier
Was macht man, wenn man weiß, dass man demnächst vor die Tür gesetzt wird, und in diesem Wissen seinen Job noch ein letztes Mal bewältigen muss? Man zieht entweder noch einmal alle Register – oder man macht nur noch das Nötigste. Der von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) geschasste künstlerische Leiter Carlo Chatrian hat bei seiner letzten Berlinale weder das eine noch das andere getan.
Er hat eine grundsolide letzte Ausgabe abgeliefert, mit herausragenden und ärgerlichen Filmen. Alles wie immer eigentlich. Programmlich zumindest - politisch hingegen schlug die Gala im Nachhinein hohe Wellen.
Der Wettbewerb, der zu Beginn noch einer der stärksten der vergangenen Jahre zu werden versprach, pendelte sich am Ende im gewohnten Mittel ein. Jury-Präsidentin Lupita Nyong’o und ihre Mitstreiter:innen hatten aber ausreichend prämierenswerte Filme zur Auswahl. Und sie haben fast ausschließlich absolut nachvollziehbare Entscheidungen getroffen, die auch in ihrer Gesamtheit die Vielfalt des Wettbewerbs abbilden.
Mit "Dahomey" hat nun schon zum zweiten Mal in Folge ein Dokumentarfilm den Goldenen Bären gewonnen. Doch während die Vergabe an Nicolas Philiberts "On the Adamant" im vergangenen Jahr viele überrascht hat, lag die Auszeichnung für Mati Diop in diesem Jahr beinahe schon auf der Hand. "Dahomey" hat nicht nur ein politisch relevantes, zeitgeistiges Thema, was traditionell bei der Bärenvergabe eine Rolle spielt. Der nur 67 Minuten kurze Film packt sein Thema, die Rückgabe von Raubkunstgegenständen von Frankreich an Benin, auch künstlerisch eigenständig und überzeugend an.
Einzig der Nebenrollenpreis für Emily Watsons eher eindimensionale Darstellung einer eiskalten Nonne im mauen Eröffnungsfilm "Small Things Like These" verwundert. Und überraschend ist, dass der hoch gehandelte iranische Beitrag "My Favorite Cake" leer ausging.
Der Große Preis der Jury für Hong Sangsoos meisterliche Komödie "A Traveler's Needs" mit Isabelle Huppert ist dagegen ebenso Grund zur Freude wie der Preis der Jury an Bruno Dumonts Science-Fiction-Satire "The Empire" - wenn auch letzterer Film von der Kritik gespalten aufgenommen wurde. Eine schöne kleine Überraschung ist die Würdigung von Nelson Carlos De Los Santos Arias' "Pepe" mit dem Regie-Preis. Ein formal gewagter wie lustvoller Film aus der Warte eines Nilpferds - und wahrscheinlich die Entdeckung schlechthin in diesem Wettbewerb.
Der Drehbuchpreis schien in diesem Jahr wie gemacht für Matthias Glasner. Sein Film "Sterben" ist so voll von knallharten, ultraintensiven, dann aber auch brüllend komischen Dialogen wie kein anderer. Auch die Auszeichnung für Martin Gschlachts intensive Kameraarbeit in "Des Teufels Bad" ist schlüssig. Der Silberne Bär für die beste Hauptrolle an Sebastian Stan in "A Different Man" ist ebenfalls nachvollziehbar. Er macht in dem furchtlosen und sehr lustigen Film glaubhaft eine Transformation der ungewöhnlicheren Art durch.
Carlo Chatrians größte Neuerung waren die Encounters. Er zog damit eine zweite Sektion mit offiziellen Preisen ein. Kleinere oder sperrigere Filme als im Wettbewerb sollten hier das große Rampenlicht bekommen. Das stellte sich im Rahmen der Berlinale zunächst als schwierig heraus, weil mit dem Forum bereits eine Sektion bestand, die einen ähnlichen Fokus hat.
Zuletzt funktionierte die Aufteilung immer besser. Und auch wenn dieser Encounters-Jahrgang nicht der stärkste war: Man kann nur hoffen, das Tricia Tuttle Chatrians Baby nicht gleich wieder abschafft, sondern sie weiterentwickelt: zu einem klar konturierten Nebenwettbewerb wie den Orizzonti in Venedig und Un certain regard in Cannes.
Was wird sonst bleiben von fünf Jahren Doppelspitze aus Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek? Sie haben das Festival verschlankt - aus Spardruck zwar, aber dennoch: Es hat der Berlinale gut getan, sich auf weniger Sektionen und weniger Filme zu konzentrieren, nachdem Dieter Kosslick sie immer weiter aufgebläht hatte.
Und Chatrian hat der Berlinale eine viel dezidierter cinephile Ausrichtung verpasst. Kein Wunder, dass es in der internationalen Filmszene einen Aufschrei gab. Unter anderem Martin Scorsese, der diesjährige Ehrenbärträger, unterzeichnete eine Petition gegen die Absetzung Chatrians. Was Chatrian weniger interessierte, war der Glamour auf dem roten Teppich - im krassen Gegensatz zu seinem Vorgänger.
Das soll nicht heißen, dass die Stars komplett abwesend gewesen wären. Doch abgesehen von Oscar-Anwärter Cillian Murphy und Produzent Matt Damon, die gemeinsam den Eröffnungsfilm präsentierten, fand das Star-Schaulaufen eher außerhalb des Wettbewerbs statt: Kristen Stewart, Adam Sandler, Sharon Stone sind einige der bekannteren Namen.
Auch Tricia Tuttle wird an dem Dilemma nichts ändern können, dass die ganz großen US-Premieren nicht kurz vor der Oscar-Verleihung im Berliner Wettbewerb Premiere feiern werden, sondern eher später im Jahr in Cannes und Venedig. Und sie hat zusätzliche schwere Bürden zu bewältigen: Die Berlinale steht weiter unter Spardruck - und hat ein stetig wachsendes Problem mit Spielstätten. So wird der Potsdamer Platz im kommenden Jahr mit dem Umzug des Filmhauses inklusive des Arsenal noch weiter verwaisen und über das als Spielstätte immer wichtiger gewordene Cubix am Alexanderplatz kursieren immer wieder Abrisspläne.
Es wird also künftig nicht leichter werden, den Tanker Berlinale zur Zufriedenheit aller zu steuern. Und der ständig prüfende Blick der Kulturstaatsministerin wird auch Tricia Tuttle nicht erspart bleiben.
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Beitrag von Fabian Wallmeier
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