Berlinale-Wettbewerb | "Living the Land"
Der chinesische Film "Living the Land" hat am Freitag den Berlinale-Wettbewerb eröffnet. Das ländliche Mehrgenerationen-Porträt mit einem Zehnjährigen im Mittelpunkt ist zunächst unübersichtlich, dann immer fokussierter. Von Fabian Wallmeier
Es ist 1991, der zehnjährige Chuang (Wang Shang) wächst in einem Dorf bei Verwandten auf. Von früh bis spät ist er von geschäftigem Trubel umgeben. Alle reden über alles und ständig richtet jemand auch das Wort an Chuang. Erziehung ist hier wie das meiste andere Gemeinschaftsaufgabe. Es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen, besagt ein vor allem in den USA gebräuchliches Sprichwort. Hier muss das Dorf alleine ran - denn Chuang Eltern sind in der Stadt Shenzhen, um Geld zu verdienen.
Es ist gar nicht so leicht den Überblick zu behalten, bei all den Onkeln, Cousinen, Uromas, Neffen und den vielen anderen Dorfbewohnern, die in Huo Mengs "Living the Land" umeinander und durcheinander wirbeln. Sein Film, der am Freitag den Berlinale-Wettbewerb eröffnete, hat zwar mit Chuang eine Art Hauptfigur - schon während auf noch schwarzer Leinwand der Vorspann läuft, stellt er sich aus dem Off den Zuschauer:innen vor. Doch in erster Linie ist die alle Jahreszeiten (und eine Hochzeit und mehrere Todesfälle) umspannende Geschichte ein lebenspralles dörfliches Mehrgenerationen-Porträt am Scheitelpunkt eines Umbruchs.
Aus einem Lautsprecher schallen Weltnachrichten und politische Verlautbarungen durch das Dorf. China ist zu diesem Zeitpunkt im gesellschaftlichen Wandel, steht aber noch relativ am Anfang seines wirtschaftlichen Aufstiegs und einer stärkeren internationalen Öffnung. Der Tod von Mao Zedong ist 15 Jahre her, der vom Militär blutig niedergeschlagene Aufstand auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking erst zwei. Und der Turbokapitalismus von heute, der China rasant zur Weltmacht aufsteigen ließ, ist noch am Anfang.
Tradition und Moderne treffen hier mitunter unerbittlich aufeinander: Eine Tante hatte Bauchschmerzen, wie ein Onkel Chuang auf dem Weg zu ihrer Beerdigung erzählt. Der Arzt wollte sie operieren und setzte eine Operation für den 26. März an. Sie kam auch am 26. März ins Krankenhaus - aber am 26. März des chinesischen Mondkalenders. Zu spät - "sie konnten nichts mehr für sie tun".
Die harte Arbeit auf dem Weizenfeld wird noch mit der Hand mit einem Ochsen als Hilfe verrichtet. Oft ist das ein dynamisches Miteinander. Aber der Film zeigt auch die Schattenseiten traditioneller handwerklicher Landwirtschaft: Ihre Härte zehrt manchmal mehr Kräfte als es den Menschen gut tut. In einer kurzen Szene sieht man Chuangs Tante (oder war es die Großtante?) einmal nachts auf dem Feld erschöpft in Tränen ausbrechen.
Tagsüber packen alle mit an, nur die älteste Greisin sitzt am Rand und schimpft mit einem geistig behinderten jungen Mann, der neben ihr sitzt und Heu in die Luft wirft. Schon 20 sei er und zu nichts zu gebrauchen. "Und du weißt noch nicht mal, wer ich bin. Hör auf mich Großmutter zu nennen - ich bin deine Urgroßmutter!" Er bleibt davon unbeeindruckt, nennt sie fröhlich weiter Großmutter und das Treiben geht weiter.
Huo Meng bildet das Durcheinander beobachtend ab und setzt nach und nach geschickt Puzzleteile zusammen. Beim Zusehen muss man sich darauf einlassen, direkt in die Welt seines Films katapultiert zu werden und viele Zusammenhänge erst nach und nach, manche vielleicht gar nicht zu begreifen.
So ist etwa zunächst nicht klar, wer ein gewisser Ta Li war und was es mit seinen Gebeinen auf sich hat, die zu Beginn des Films das Geschehen bestimmen. Seine Knochen werden aus einem Feld gegraben und später in einen Sarg gelegt für eine ordentliche Bestattung. "Das muss von seiner Exekution sein", sagt jemand zu Chuang über einen nicht intakten Knochen. "Los, geh damit spielen!" Erst später erfahren wir nach und nach, was mit ihm passiert ist und wie er zu den anderen Figuren im Verhältnis stand.
Düstere Einsprengsel wie dieses gibt es an mehreren Stellen wie diesen. Das Eindringlichste ist eine als Traum zu deutende Sequenz etwa eine halbe Stunde vor Ende des Films. Da versucht Chuang, das Dorf davon zu überzeugen, dass ein Totgeglaubter noch lebt - und findet sich nach einem Lauf durch den dichten Nebel umzingelt von Menschen, die mit Gewehren auf ihn zielen.
Größtenteils bleibt Huo Meng aber dem Realismus verpflichtet. Die moderne Technik erhält im Verlauf des Films Einzug ins Dorf. Geschäftsleute in Anzügen preisen die Ziegel aus ihrer Fabrik an und schließlich kauft ein Dorfbewohner den ersten Traktor. "Viel stärker als meine Ochsen", kommentiert ein anderer ohne allzu große Bewunderung, aber durchaus anerkennend. Am Abend versammelt sich dann das halbe Dorf vor einem Fernseher, den jemand vor sein Haus gestellt hat.
"Living the Land" ist zwar ruhig gefilmt und geschnitten, in der Abfolge der Szenen aber über weite Strecken rasanter erzählt, als man zunächst bemerkt. Huo Meng bleibt selten lange bei einem Erzählstrang. Erst im letzten Drittel verdichtet sich der Film stärker, kommt mehr zur Ruhe. Das Hauptaugenmerk ist nun klar bei Chuang und seinen Sorgen. Einmal sieht man ihn am Rande einer Hochzeitsfeier mit Tränen in den Augen spucken und würgen, später präsentiert er der Urgroßmutter mit schlecht versteckter Traurigkeit die Bonbons, die seine Mutter ihm bei einem Besuch mitgebracht hat. Wenn die Eltern fehlen, ist das ganze Dorf, das einen aufzieht, manchmal einfach zu wenig.
Derweil gewinnt der landwirtschaftliche Fortschritt immer mehr die Oberhand. Mit immer mehr Maschinerie wird das Land bearbeitet - es wird gepflügt, gebohrt und aufgesprengt, um ihm alles abzugewinnen, was es hat.
Ganz am Ende verabschiedet sich die Kamera langsam aus dem Film - ohne dass Chuang noch einmal wie am Anfang aus dem Off spricht. Eine Rückwärtsbewegung weg von den Figuren, die sich mit einem Traktor durch Schnee und Ackermatsch kämpfen (mehr soll hier nicht verraten werden) mündet in einer Vogelperspektive auf die winterliche Landschaft - und als Zuschauer:in bleibt man mit einigen Fragen über diesen abrupten Abschied zurück.
Chuang und sein Dorf entlässt Huo damit in eine ungewisse Zukunft. Man hofft beim Weiterspinnen, dass das rege Miteinander auch heute noch existiert und die Menschen vom Fortschritt profitierend auf neue Art ihr Land leben können. Man ahnt aber, dass es wahrscheinlich ganz anders gekommen ist.
Sendung: Radiodrei, 14.02.2025, 18:10 Uhr
Beitrag von Fabian Wallmeier
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