Interview | Dokumentation "Berlin 1945"
Am Tag der Kapitulation lag Berlin in Trümmern. Vom Erleben und vom Alltag der Bewohner zur "Stunde Null" erzählt die Dokumentation "Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt". Regisseur Volker Heise erklärt im Gespräch, warum er dabei auf Zeitzeugen verzichtet hat.
rbb: In Ihrer Fernsehdokumentation "Berlin 1945" lassen Sie Tagebücher sprechen, aber keine Historiker, keine Zeitzeugen, keine Erzählstimme. Warum haben Sie sich gegen all das entschieden?
Volker Heise: Erinnerungen von Zeitzeugen haben generell immer die Tendenz, die Dinge anders zu sehen, als sie wahrscheinlich waren. Außerdem wollten wir eine gewisse Unmittelbarkeit erreichen. Dass man Menschen zuhört, die damals gelebt haben. Was haben sie zu sagen? Wie haben sie die Ereignisse damals gesehen? Wie haben sie sie eingeordnet? Und was haben Sie erlebt? Und wir wollten keinen Kommentar haben, denn wir wollten den Leuten nicht sagen, was sie denken oder fühlen sollen und sie in keine Richtung bringen.
Und wenn Sie sagen: Berlinerinnen und Berliner, die damals in der Stadt gelebt haben, dann müssen Sie auch immer mit dazu sagen, dass 300.000, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Berlin gelebt haben. Dass es in Berlin Außenlager von Konzentrationslagern gab. Berlin war im April, Mai, Juni 1945 eine Stadt, in der unglaublich viele Nationen waren.
Nach was für Dokumenten haben Sie vor allem gesucht?
Wir sind durch Archive gegangen, ich habe ein großes Team von Rechercheuren gehabt, und wir haben zusammen versucht, diese Tagebücher zu finden. Einige sind veröffentlicht, so wie das Tagebuch von Brigitte Eicke "Backfisch im Bombenkrieg". Aber es gab auch viele schöne Funde, die nie veröffentlicht worden sind, wie zum Beispiel die Briefe von Alice Löwenthal, einer untergetauchten Jüdin.
Es ist sehr selten, dass man Briefe oder überhaupt Dokumente von Juden oder Jüdinnnen hat, die untergetaucht sind. Da muss man in Museen, in Archive auf der ganzen Welt suchen. Wir haben in Moskau, Paris, in London und Washington recherchiert – auch nach Filmmaterial. Wir haben auf der ganzen Welt versucht, Material zu finden, weil wir multiperspektivisch erzählen wollten.
Es gibt in diesem Film viele Stimmen aus Briefen und Tagebüchern. Was für ein Bild ergibt diese Vielstimmigkeit über diese Zeit?
Ich glaube, das ist eine riesige selbstorganisierte Tragödie. Diesen Zweiten Weltkrieg, und das Ende des Zweiten Weltkriegs, hat sich Berlin ja selbst angetan. Zwar ist die russische Armee gekommen, es sind alliierte Flugzeuge über die Stadt geflogen, haben Bomben abgeworfen, aber am Ende des Tages ist es eine riesige, selbst organisierte Tragödie. Mit Schuldigen, das muss man auch sagen. Ich hab immer geschwankt zwischen Erbarmen und Abscheu.
Es stellt sich bei solcherlei Dokumentationen immer die Frage von Verantwortung und Schuld. Wie sehr war das denn für Sie ein Thema - etwa bei so heiklen Themen wie Vergewaltigung von Kindern und Frauen durch russische Soldaten?
Nicht nur russische Soldaten, auch französische und amerikanische Soldaten, das vergisst man gerne. Ich glaube, das muss man immer auch im Kontext miterzählen. Die russischen Soldaten kommen nach Deutschland, und die fragen sich: Was haben die Deutschen von uns gewollt? Hier sind die Straßen super, die Gutshöfe sind super in Schuss, die Leute sind reich und dick und haben Geld und haben was zu essen. Was wollten sie von uns?
Die sind seit vier Jahren unterwegs, die haben keinen Fronturlaub gehabt und sind voller Wut. Und die meisten haben links und rechts ihre Freunde sterben sehen. Oder das Wüten der Deutschen in ihren Ländern erlebt. Man darf diese Wut nicht verschweigen oder unter den Tisch kehren. Es gab diese Vergewaltigungen, und sie waren massiv.
Erstaunlich ist, wieviel Filmmaterial und Bilder Sie gefunden haben. Existiert tatsächlich so viel filmisches Material aus der Zeit?
Nein, eigentlich ist die Materiallage eher dünn. Sie müssen sich vorstellen: Die Deutschen haben ja nur bis März, April gedreht. Dann haben im Grunde genommen die Russen übernommen: Mit 38 Kameramänner haben sie den Sturm auf Berlin gedreht, weil sie das ihren Leuten als Trophäe zeigen wollten. Und dann kamen die Alliierten. Aber eigentlich waren im Juni alle schon wieder weg, denn dann drehte sich alles nur noch um den Krieg im Pazifik, und keiner interessierte sich mehr für Berlin.
Wir haben alles, was es aus Berlin gibt, genommen und manchmal auch aus anderen Städten in Deutschland. Wenn wir dachten, das, was in dem Tagebuch über Berlin erzählt wird, passiert auch in Hamburg oder München, dann kann man auch mal ein Bild aus Hamburg oder München nehmen.
75 Jahre nach der Befreiung hat Berlins Kultursenator Klaus Lederer gefordert, dass der 8. Mai ein regulärer Feiertag wird. Was halten Sie von dem Vorschlag?
Ich bin da gespalten. Ich bin dagegen zu sagen: Freuen wir uns, das war eine Befreiung. Es war eine Niederlage, die eine Befreiung war. Die Leute, die Tagebuch geschrieben haben damals, die meisten Berlinerinnen und Berliner haben es als Niederlage empfunden.
Also eher ein Gedenk- als ein Feiertag?
Ja. Erinnern wir uns vielleicht eher daran, wie zerbrechlich unsere Stadt ist. Mir ist es oft so gegangen, wenn ich aus dem Schneideraum nach Hause gegangen bin und an Orten vorbeiging, deren Zerstörung ich gerade beigewohnt hatte: Da kriegt man schon ein Gefühl dafür, wie zerbrechlich so eine Stadt ist. Und wie wenig es braucht, um sie zu zerstören. Es ist ein verflucht zerbrechliches Gebilde.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Shelly Kupferberg, rbbKultur. Die Textfassung ist eine gekürzte und regdigierte Version. Das gesamte Gespräch können Sie hören, wenn Sie auf das Audiosymbol im Titelfoto klicken.
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