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Audio: Inforadio | 19.10.2020 | Natascha Gutschmidt | Quelle: imago images

Studie zu Fall-Mindestmengen

Frühgeborene haben höhere Überlebenschance in Kliniken mit mehr als 50 Fällen

Laut einer neuen Studie könnten 25 bis 40 potenzielle Todesfälle vermieden werden, wenn Frühgeborene in Spezialkliniken versorgt würden. In Brandenburg erfüllt kein einziges Krankenhaus die Mindestfallzahl, die eine Klinik dafür aufweisen muss. Von Dominik Wurnig

Frühgeborene Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1.250 Gramm haben eine höhere Überlebenschance in Kliniken, die mehr als 50 solcher Fälle jährlich behandeln. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die am Montag in der Fachzeitschrift "Geburtshilfe und Neonatologie" erscheint.

Das Forscherteam um den Versorgungsforscher Günther Heller hat dafür die Daten von mehr als 56.000 sehr frühen Frühgeborenen ausgewertet, die von 2010 bis 2018 in deutschen Perinatalzentren (Level 1) behandelt wurden. Bei einer Mindestmenge von 50 behandelten Fällen jährlich könnten laut Studie bundesweit potenziell 25 bis 40 Todesfälle vermieden werden. "Jeder vermeidbare Todesfall ist eine Tragödie, erst recht, wenn es sich um ein Kind handelt", sagt Christoph Bührer, Direktor der Neonatologie an der Berliner Charité.

Der Zusammenhang zwischen der Fallzahl (Volumen) und Ergebnisqualität (Outcome) ist schon länger belegt – erstmals hat nun eine Studie einen Schwellenwert für optimale Behandlungsergebnisse ermittelt. Routine und Erfahrung sind dabei entscheidend. "Eine Pflegekraft muss an einem Samstagnachmittag erkennen können, dass da irgendwas bei diesem Kind faul ist, und rechtzeitig reagieren, so dass man frühzeitig einschreiten kann", sagt Rainer Rossi, Mitautor der Studie und Chefarzt der pädiatrischen Intensivmedizin am Klinikum Neukölln.

"Diese Routine und diese Übung auch für seltene Ereignisse hat man nur, wenn man seltene Komplikationen tatsächlich auch mal selbst erlebt und gesehen hat." Eine gute Frühgeborenenbehandlung sei immer eine Teamleistung. "Wenn eine Klinik nur wenige solche Kinder betreut, dann hat ein einzelner Arzt oder eine einzelne Pflegekraft eine seltene Komplikation eventuell noch nie gesehen", sagt Rossi.

Durchschnittlich 79.000 Euro für die Behandlung

Rund ein Prozent aller Neugeborenen kommen mit weniger als 1.250 Gramm zur Welt. Diese Patientengruppe ist besonders gefährdet und kann in der Regel erst nach vielen Wochen die Intensivstation verlassen.

So früh geborene Kinder haben Schwierigkeiten mit dem Kreislauf, der Lunge und dem Darm. Das Abwehrsystem ist viel schlechter als bei Reifgeborenen, weshalb das Infektionsrisiko deutlich erhöht sei, sagt Rossi. "Bakterien, die vollkommen normal für uns sind und auf unserer Haut wohnen, können bei diesen Kindern Blutvergiftungen und schwerwiegende Infektionen beispielsweise im Darm auslösen", sagt er weiter.

Die Gefäße - besonders im Gehirn - halten lang nicht so viel aus und Frühgeborene haben daher leichter gefährliche Hirnblutungen. Auch die Netzhautgefäße in den Augen müsse sich erst ausbilden und eine Komplikation könne ohne die richtige Behandlung im schlimmsten Fall zur Erblindung führen.

Laut Auskunft der AOK Nordost bekommen Kliniken im Durchschnitt rund 79.000 Euro erstattet für die Behandlung eines Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1.250 Gramm.

Perinatalzentren Level I in Berlin und Brandenburg

In Brandenburg erfüllte im Jahr 2018 laut AOK-Transparenzliste keine einzige Klinik die geforderte Fallzahl, in Berlin gerade einmal die Hälfte. Im Klinikum Frankfurt (Oder) wurden 2018 nur elf sehr frühe Frühchen versorgt, im Carl-Thiem-Klinikum Cottbus 13 (laut eigenen Angaben waren es im Jahr 2019 in Frankfurt (Oder) 16 Fälle und im Cottbus 20 Fälle). Aktuell beträgt die erforderliche Mindestmenge 14 Fälle jährlich – dazu später mehr.

In Berlin hat laut AOK-Transparenzliste das Evangelische Waldkrankenhaus Spandau 19 und die DRK-Kliniken 22 Frühgeborene unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht behandelt.

Laut Frank Jochum, Chefarzt der Kindermedizin des Evangelischen Waldkrankhauses Spandau, sind die Zahlen der AOK-Transparenzliste fehlerbehaftet. 2018 seien laut Krankenhausangaben 27 Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1.250 Gramm behandelt worden. Die Zahl für 2018 sei für die Klinik in Spandau "nicht repräsentativ, da in dieser Zeit zeitweilig nur mit eingeschränkter Kapazität wegen dem Neubau der Neonatologie gearbeitet werden konnte".

"Die Neonatologie der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Evangelischen Waldkrankhauses Spandau arbeitet seit Jahren mit höchster Behandlungsqualität, auch bei der Behandlung von Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht kleiner 1.250 Gramm", sagt Jochum. "Es besteht darum keine Veranlassung, die Behandlung dieser Patientengruppe durch Verlegungen in andere Einrichtungen zu verschlechtern."

Auf Nachfrage hieß es, man plane auch nicht in Anbetracht der Studienergebnisse, Patientinnen über das erhöhte Sterblichkeitsrisiko in einer Klinik mit einer jährlichen Fallzahl unter 50 aufzuklären. "Bei der beschriebenen Evidenzlage und der guten Behandlungsqualität besteht keine Veranlassung, die bei der Geburt eines sehr unreifen Frühgeborenen ohnehin belasteten Eltern durch ungesicherte Informationen zusätzlich zu verunsichern", sagt der Chefarzt in einer schriftlichen Stellungnahme.

"Die Aussage von Herrn Jochum, die Zahlen der AOK-Transparenzliste seien fehlerbehaftet, ist aus unserer Sicht nicht nachvollziehbar", reagierte die AOK-Nordost in einer schriftlichen Stellungnahme. "Die in der Transparenzliste von der AOK veröffentlichen Daten beruhen auf den Angaben, die die Krankenhausträger im Rahmen der jährlichen Prognose selbst vorgenommen haben. Auf dieser Basis wurde von den Landesverbänden der Krankenkassen und Ersatzkassen über die weitere Leistungserbringung entschieden.“

Klinikum Frankfurt (Oder)

Trotz der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse will auch das Klinikum Frankfurt (Oder) weiterhin Frühgeborene unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht versorgen und spricht sich gegen eine Anhebung der Mindestmenge aus. Auf Anfrage erklärt die Kliniksprecherin auch, dass man Eltern nicht über das erhöhte Sterblichkeitsrisiko in Krankenhäusern mit geringer Fallzahl aufklären möchte. "Wir verweisen auf unsere eigene Ergebnisqualität mit einem sehr hohen Qualitätsstandard, der zum Teil über dem größerer Kliniken liegt", sagt Sprecherin Kati Brand. Man sehe keinen Gewinn an Versorgungsqualität, wenn etwa werdende Mütter noch vor der Frühgeburt ins Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus verlegt würden. "Umgekehrt könnte man die Frage stellen, ob man alle Frühgeborenen der Region Cottbus im Klinikum Frankfurt (Oder) versorgen könnte", sagt Brand.

Landespolitik stärkt dem Klinikum Frankfurt den Rücken

Für das Brandenburger Gesundheitsministerium ist die Festlegung der Mindestmenge nach wie vor umstritten. "Das Land Brandenburg sieht die Sinnhaftigkeit der Steuerung der Versorgung mittels Mindestmengen kritisch", heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. Das Gesundheitsministerium wolle an den Standorten festhalten. Schon jetzt darf das Klinikum Frankfurt (Oder) Frühgeborene unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht nur auf Grund einer Ausnahmegenehmigung der Landesbehörde behandeln, da das Klinikum unter der Mindestmenge von 14 Fällen im Jahr 2018 blieb.

"Bei einem Ausschluss [Anm.: des Krankenhauses Klinikum Frankfurt (Oder)] von der Versorgung von Frühgeborenen unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht ist neben einer Verschlechterung der Erreichbarkeit des Versorgungsangebots für werdende Eltern auch eine Schwächung der Versorgungsstufe des Krankenhauses selbst und damit auch der Versorgungsqualität in der Region zu befürchten", heißt es in der schriftlichen Stellungnahme des Gesundheitsministeriums. "Das Klinikum Frankfurt (Oder) ist ein wesentlicher Anker in der Versorgungslandschaft zur Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung."

Der Studienautor Rossi vom Klinikum Neukölln, wo 2018 80 extreme Frühchen versorgt wurden, sagt hingegen: "Die sehr kleinen Frühgeborenen, die mit dem allerhöchsten Risiko, sind ein so seltenes Ereignis und erfordern eine so besondere Struktur und persönliche Erfahrung des gesamten Teams, dass es verantwortungsvoll ist zu sagen: Das machen wir jetzt hier eben nicht. Das planen wir anders. Und daran kann man nur appellieren."

Das Ding mit der Erreichbarkeit

"Wir wissen von Eltern sehr wohl, dass natürlich die Frage der wohnortnahen Versorgung wichtig ist", sagt Rossi. "Wir wissen aber auch von den Eltern ­- und auch von den Verbänden der Eltern frühgeborener Kinder - dass das wirklich etwas Sekundäres ist. Dass es zunächst einmal um das gesunde Überleben ihres Kindes geht. Deshalb sind die Elternverbände auch seit Jahren dafür, dass es eine Erhöhung der Mindestmenge gibt."

Befürworter einer Konzentration führen skandinavische Länder als Maßstab an. "In Schweden hat man die Behandlung sehr unreifer Frühgeborener auf acht Kliniken konzentriert – mit dem Ergebnis, dass die Sterblichkeit sehr kleiner Frühgeborener dort niedriger ist als in Deutschland. Diese Reduzierung der Krankenhausstandorte ist dort gelungen, obwohl die Bevölkerungsdichte Schwedens nur zehn Prozent der deutschen beträgt und die Fläche Schwedens die Deutschlands um 25 Prozent übersteigt", sagt Christoph Bührer von der Berliner Charité. "Hätten wir schwedische Verhältnisse, wäre die Anzahl der Perinatalzentren der maximalen Versorgungsstufe (Level I) in Deutschland vergleichbar mit der Anzahl der Ikea-Einrichtungshäuser." Die werdenden Mütter werden dort in der Regel schon vor der Geburt in ein Spezialkrankenhaus gebracht.

Rossis Angaben zufolge ist ein entsprechender Notarzthubschrauberflug wesentlich günstiger als das Aufrechterhalten eines funktionierenden Krankenhauses in einer dünnbesiedelten Gegend. In Berlin und anderen Großstädten würde die Reduktion auf weniger Standorte die Fahrtzeit für die Familien nur minimal erhöhen. In dünn besiedelten Gegenden in Brandenburg wäre das anders. Doch: "Eine Frühgeburt trifft einen nicht wie der Blitz aus dem heiteren Himmel, sondern eine Frühgeburt kündigt sich meistens an - durch eine Erkrankung der Mutter oder des Kindes, die dann zur frühen Geburt führt", sagt Rossi, der auch den Gemeinsamen Bundesausschuss berät. Es bleibe genug Zeit, die Mutter noch vor der Geburt in ein geeignetes Zentrum zu verlegen.

Erhöhung der Mindestmenge soll kommen

Die Mindestmengenregelung schreibt ein Mindestmaß an Erfahrung für komplexe Behandlungen und Eingriffe in Krankenhäusern vor. Für sehr kleine Frühgeborene gilt seit 2010 eine Mindestmenge von 14 Fällen pro Jahr und Klinik. Die zwischenzeitliche Erhöhung der Mindestmenge auf 30 Fälle pro Jahr wurde nach der Klage mehrerer Kliniken vom Bundessozialgericht wieder aufgehoben. Das Gericht bemängelte die nicht ausreichende wissenschaftliche Grundlage. Die am Montag erscheinende neue Studie soll das nun ändern.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA; das höchste Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen) strebt noch in diesem Jahr, eine höhere Mindestmenge für die Behandlung Frühgeborener zu beschließen. Zumindest behauptet das der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Spitzenverband), die fünf von 13 wahlberechtigten Mitgliedern stellen und sich als treibende Kraft hinter den Mindestmengen verstehen. "Die Anhebung der Mindestmenge ist dringend erforderlich, und zwar auf ein Niveau, das dem in der Studie berechneten, zumindest nahekommt", sagt auch Bührer.

Nur wie hoch die neue Mindestmenge sein soll, ist noch umstritten – und wird gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Bisher halten alle Beteiligten dicht und kommunizieren keine Zahl. Klar ist aber auch: Die Anhebung kann nur schrittweise erfolgen, da sonst die Spezialzentren überlastet wären.

Beitrag von Dominik Wurnig

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