Anschlag in Berlin 2016
Das Bundeskriminalamt konnte bis heute zwei Rufnummern nicht identifizieren, die ein "ähnliches Bewegungsmuster" wie der Breitscheidplatz-Attentäter Amri aufweisen. Beide Nummern sind weiter aktiv, wie rbb-Recherchen ergeben. Von René Althammer und Leon Becker
20. Dezember 2016: Anis Amri, der damals noch unbekannte Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, ist auf der Flucht. Am Bundesgerichtshof in Karlsruhe ordnet ein Ermittlungsrichter eine Massenabfrage von Mobilfunkdaten an, um möglichen Tätern und Unterstützern auf die Spur zu kommen. Die Funkzellen entlang der Fahrstrecke des Lkw, den der Attentäter gekapert hatte, werden ausgewertet: vom Friedrich-Krause-Ufer über den Tiergartentunnel bis zum Breitscheidplatz. Zehntausende Daten werden abgerufen und anschließend mit dem Verkehrsdaten-Analyse-Tool für Massendaten (VanToMas) ausgewertet.
Übrig bleiben 18 Nummern. Sie sind auffällig, weil es zeitliche und räumliche Überschneidungen mit den etwas später bekannt gewordenen Mobilfunkdaten von Amri gibt. Die 18 Nummern landen für weitere Ermittlungen im BundeskriminaIamt (BKA). Am 22. Februar 2017 legen die ermittelnden Beamten ihren Abschlussbericht vor: 16 Anschlussinhaber identifiziert - alle ohne Beziehungen zu Amri. Übrig bleiben zwei Nummern: eine Nummer mit russischer Vorwahl und die Nummer 0088239 3261195090.
Das BKA konnte die Anschlussinhaber angeblich nicht feststellen. rbb24 Recherche hat die Ermittlungen nachvollzogen und ist zu einem anderen Ergebnis gekommen: Eine Nummer gehört zu einem Fahrzeug von BMW, bei der zweiten Nummer meldet sich ein Herr, der recht gut Deutsch spricht.
Der Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz (Grüne) gehört seit Jahren zu denen, die den schwersten islamistischen Anschlag in Deutschland parlamentarisch aufarbeiten. Bis heute glaube er nicht, dass Anis Amri allein gehandelt hat, wie es die Ermittler seit Jahren immer wieder betonen. "Da ist diese Funkzellen-Auswertung ein wesentlicher Baustein", sagt von Notz, denn über die so gewonnenen Bewegungsprofile könnten mögliche Mittäter vielleicht identifiziert werden. Von Notz kennt die Akten und ist deshalb bis vor kurzem davon ausgegangen, dass das BKA wohl Recht hatte und die Nummer höchstwahrscheinlich zu einem Satellitentelefon gehörte. Trotzdem haben er und seine Kollegen nochmals nachgefragt, aber das Bundesinnenministerium hatte keine neuen Erkenntnisse seit 2017 (bundestag.de/PDF).
rbb24 Recherche hat diese Auskunft mit Experten überprüft und eigene Recherchen in öffentlich zugänglichen Datenbanken durchgeführt und ist dabei auf ein Kommunikationsmodul gestoßen statt auf ein Satellitentelefon. Das hätte auch das BKA herausfinden können.
Doch wie kam das BKA zu der Erkenntnis, dass die Nummer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Satellitentelefon gehörte? Schritt eins der Spezialisten: eine Open-Source-Internetrecherche auf "helpster.de" – so steht es in den Akten. "helpster.de" ist eine Ratgeber-Plattform, die von "Beauty&Styling" bis zu "Handy&Festnetz" alles im Angebot hat. Dort suchten die Beamten nach der Vorwahl 0088 und bekamen zur Antwort: "Hier handelt es sich um Vorwahlen von Satellitentelefon-Netzbetreibern."
Das Problem: Die Vorwahl 0088 gibt es so gar nicht. Analysiert man die ganze Nummer, so stellt man fest, dass die korrekte Vorwahl 0088239 statt 0088 lautet. Der rbb hat daraufhin statt "helpster.de" die Bundesnetzagentur angefragt. Die Antwort kam innerhalb von zwei Stunden: "Die Kennzahl wurde von der ITU (International Telecommunication Union, Anm.d.Red.) am 20.06.2006 dem Unternehmen Vodafone Malta (Vodafone Group) zugeteilt."
Der nächste Schritt war eine Anfrage bei Vodafone. Auch hier kommt die Antwort schnell. Vodafone bietet mit dieser Vorwahl spätestens seit 2013 in Deutschland einen weltweit funktionierenden Servicedienst an, der auch dem Telekommunikationsgesetz unterliegt. Das heißt, das Unternehmen muss den Sicherheitsbehörden auf Anfrage mitteilen, wer hinter einer Telefonnummer steckt. Das Bundeskriminalamt stellte eine sogenannte "automatisierte Abfrage" bei der Bundesnetzagentur – ohne Ergebnis. Eine direkte Anfrage nach der Vorwahl scheint jedoch nicht erfolgt zu sein. Nachfragen dazu beantworten weder die Generalbundesanwaltschaft noch das Bundesinnenministerium oder das BKA. Begründung: laufende Ermittlungen.
Doch das BKA war bei seinen Ermittlungen nicht allein auf Vodafone oder die Bundesnetzagentur angewiesen. Denn zu den Daten, die dem BKA seit der Funkzellenabfrage vorliegen, gehört auch die IMEI (International Mobile Equipment Identity) des Kommunikationsgerätes, das sich am 19. Dezember 2016 ins Netz "eingebucht" hatte.
Ob Handy oder Smartphone, alle haben eine IMEI, anhand derer die Geräte weltweit eindeutig identifiziert werden können. Hat man die IMEI, dann kann man in Datenbanken danach recherchieren. Das haben die BKA-Beamten auch getan und herausgefunden: Die Nummer gehört zu einem Gerät namens "CIB eCALL EU – NAD6200GNSS" des Herstellers Peiker. NAD steht dabei für Network Access Device, ein Modul, durch das bei modernen Autos beispielsweise der Zugang ins Internet, die Satellitennavigation oder Telefonie ermöglicht wird. Peiker gehörte zu den Wegbereitern dieser Technik in Deutschland.
Dieter Spaar ist ein ausgewiesener IT-Experte für Kommunikationstechnik im Automobilbereich. Er arbeitete schon mit dem ADAC zusammen und gilt als Kenner der Szene. 2016, so Spaar, war das Peiker NAD6200 "ein relativ aufwändiges Gerät". Es wurde vor allem bei Telematik-Geräten der Premiumhersteller in der Automobilindustrie eingesetzt. Doch eine Nachfrage des BKA bei Peiker, wer das NAD genutzt haben könnte, ist nicht dokumentiert. Recherchiert man zu Peiker, wird schnell deutlich, dass das Unternehmen lange sehr eng mit BMW zusammengearbeitet hat.
Konstantin von Notz ist sich nicht sicher, ob es sich in diesem Fall nur um "Wurstigkeit" oder um "handwerkliche Fehler" handelt. Das Ergebnis passt für ihn aber ins Bild. Er wirft den Sicherheitsbehörden seit Langem vor, dem konkreten Tatverdacht, dass Amri nicht allein gehandelt habe, nicht wirklich nachzugehen. Die Ermittlungspanne gehört für ihn zu einer Reihe von Fehlern, bei denen bis heute unklar sei, wie es dazu kommen konnte und wer dafür verantwortlich sei.
Zu diesem Bild passen auch die Ermittlungen zu der Nummer mit der russischen Vorwahl "079". Sie ist bis heute aktiv. Wenn man anruft, dann meldet sich ein Mann, der mit Akzent Deutsch spricht. Sein Telefon läuft über einen Provider in Tscherkessien am Nordhang des Kaukasus. Die IMEI des Telefons ist manipuliert. Für das BKA kein Anlass, genauer nachzuforschen.
Sendung: Inforadio, 14.06.2021, 8 Uhr
Beitrag von René Althammer und Leon Becker
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