Verstöße gegen Asbestrichtlinie
Jede dritte Schule in Berlin ist mit schwach gebundenem Asbest belastet, der schon durch Alterung der Gebäude Fasern freisetzen kann. Die Asbestrichtlinie schreibt in solchen Fällen regelmäßige Prüfungen vor. Nicht alle Bezirke halten sich daran. Von Roberto Jurkschat und Ute Barthel
Wenn Karin Stolle in den Keller der Spandauer Schule an der Jungfernheide steigt, setzt sie ihre FFP2-Maske auf.
Nur wenige Tage vor Ostern hat die Schulleiterin erfahren, dass die Schule am Lenther Steig noch mit schwach gebundenem Asbest belastet ist. Allerdings nicht durch Mitarbeiter des zuständigen Bezirksamtes, sondern durch einen Anruf von rbb24 Recherche. "Da war ich natürlich auch ein bisschen erschüttert, das muss ich schon ganz ehrlich sagen", sagt Stolle.
Denn eigentlich glaubte sie, dass die Schule nach der Sanierung von Fußböden und Deckenplatten im Jahr 2009 schadstofffrei sei. Doch im Heizungskeller gibt es noch asbesthaltige Brandschutzklappen. Der Bezirk ist als Eigentümer des Schulgebäudes dazu verpflichtet, mindestens im Abstand von fünf Jahren zu prüfen, ob Asbestfasern in die Atemluft gelangen können. Denn anders als festgebundener Asbest , der etwa unter Bodenbelägen verbaut ist, kann der Schadstoff in schwach gebundener Form in Dichtungen oder Brandschutzelementen bereits durch die Alterung der Bauteile freigesetzt werden [stadtentwicklung.berlin.de].
Doch obwohl dem Bezirk die Belastung der Schule seit mehr als zwölf Jahren bekannt ist, fanden in der Schule keine Kontrollen mehr statt. Ein Einzelfall ist das nicht: Aus Prüfdaten des Bezirksamtes geht hervor, dass insgesamt 16 Spandauer Schulen trotz bekannter Asbestbelastungen mindestens zwölf Jahre lang nicht überprüft wurden. Betroffen sind rund 7.700 Schüler und 750 Lehrkräfte.
Seit 1993 ist die Verwendung von Asbest in Deutschland verboten. Eine Umfrage von rbb24-Recherche unter allen Bezirken und der Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) hat ergeben, dass auch knapp 30 Jahre später noch mindestens 200 öffentliche Berliner Schulen mit schwach gebundenem Asbest belastet sind – das ist fast jede dritte öffentliche Schule in der Hauptstadt.
Dabei scheinen manche Bezirke keinen genauen Überblick über die Altlasten ihrer Gebäude zu haben. Das Bezirksamt in Neukölln teilte trotz mehrerer Nachfragen nicht mit, welche Schulen betroffen sind. Ein Sprecher bestätigte aber, "in einzelnen Fällen" gebe es noch schwach gebundenen Asbest in Schulen. Dieser könne aufgrund seiner Verbauungssituation aber nicht freigesetzt werden.
Aus dem Bezirksamt in Reinickendorf hieß es, dass alle Schulen in den 90er Jahren überprüft worden seien. Schwach gebundener Asbest sei damals "in allen Gebäuden des Bezirks vollumfänglich beseitigt worden". Im Februar 2010 wurde dann aber bekannt, dass fünf Reinickendorfer Schulen wegen asbesthaltiger Fensterpappen geschlossen werden mussten.
Die Daten der BIM und der Bezirke über Schadstoffprüfungen an Berliner Schulen zeigen, dass Bestbelastungen mit Asbest im Westen der Stadt deutlich größer ist als in den Ostbezirken: Allein 43 betroffene Schulen liegen in Steglitz-Zehlendorf, 44 Schulen in Berlin-Mitte, 37 in Tempelhof-Schöneberg, 22 in Spandau und 16 in Friedrichshain-Kreuzberg. Auch ein Großteil der 34 belasteten Schulgebäude der landeseigenen Berliner Immobilien GmbH (BIM) liegt im Berliner Westen. Ein Sprecher des Bezirksamtes in Charlottenburg-Wilmersdorf erklärte, dass dort keine Schule mehr schwachgebundenen Asbest enthalte.
Sprecher der Bezirke Pankow, Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf erklärten ebenfalls, es seien keine asbesthaltigen Teile in den dortigen Schulen vorhanden. In Treptow-Köpenick sind nach Bezirksangaben zwei belastete Schulen aktenkundig, diese enthielten aber nur festgebundenen Asbest.
Die landeseigene BIM und die Bezirksämter sind als Gebäudeeigentümer für den Erhalt der Schulgebäude verantwortlich. Die Asbestrichtlinie schreibt ihnen vor, regelmäßige Schadstoffprüfungen in belasteten Bauten vorzunehmen.
Je nach Lage der Asbestprodukte, Raumnutzung, den verwendeten Asbestarten oder dem Oberflächenzustand der belasteten Bauteile werden bei den Schadstoffprüfungen Punkte vergeben. Daraus ergibt sich, wann ein Bau saniert werden muss: langfristig, mittelfristig oder unverzüglich. Nach der Punktezahl bemisst sich aber auch, ob die Eigentümer in zwei oder fünf Jahren erneut überprüfen müssen, ob giftige Asbestfasern in die Raumluft gelangen.
Einige Bezirke setzten die Asbestrichtlinie um – andere nicht. Prüfdaten der Bezirksämter in Steglitz-Zehlendorf, Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und der BIM zeigen, dass die dort betroffenen Schulen in den vorgeschriebenen Abständen überprüft wurden. In Tempelhof-Schöneberg wurden jedoch nach Aussage der zuständigen Bezirksstadträtin Angelika Schöttler (SPD) zahlreiche Schulen wegen Personalmangels nicht fristgerecht kontrolliert.
Carola Brückner (SPD), seit November Spandauer Bezirksbürgermeisterin, entschuldigte sich auf Nachfrage für die versäumten Prüfungen an 16 Schulen in ihrem Bezirk: "Ich bedauere das sehr. Mein Amt hat jedoch inzwischen alle erforderlichen Überprüfungen an externe Sachverständigenbüros in Auftrag gegeben."
Das Gefährdungspotenzial für Schüler, Lehrer und Eltern bezeichnete Brückner als "sehr gering", da die asbesthaltigen Produkte "in den allermeisten Fällen" nicht in den Klassenräumen, sondern in Technikräumen eingebaut worden seien. Ähnlich äußerten sich auch andere Bezirksämter.
Der Bauchemiker Josef Spritzendorfer von der Europäischen Gesellschaft für gesundes Bauen und Innenraumhygiene (EGGBI) ist dagegen der Ansicht, dass schwach gebundener Asbest in keiner Schule oder Kita in Berlin vorkommen dürfte. "Kinder laufen in der Pause durch die Räume, es wird Staub mit Fasern und Schadstoffen aufgewirbelt. Hier müsste eine wesentlich strengere Richtlinie erarbeitet werden", sagt Spritzendorfer. "Im schlimmsten Fall kann natürlich schon eine einzelne Asbestfaser wirksam werden. Deshalb hat schwach gebundener Asbest in Schulen und Kitas grundsätzlich keinen Platz", so der Bauchemiker.
Auch der Vorsitzende des Landeselternausschusses Norman Heise hat wenig Verständnis für die Argumente aus den Bezirksämtern. "Als Elternvertreter machen wir uns natürlich Sorgen darum, wenn Behörden ihren pflichtgemäßen Aufgaben nicht nachkommen", sagte Heise. "Gerade beim Thema Asbest wissen wir alle, das sind Fasern, die lungengängig sind und daher muss das tatsächlich regelmäßig überprüft werden." Heise fordert von den Ämtern mehr Transparenz. Denn oftmals würden weder die Eltern noch die Lehrerschaft wissen, ob und wo sich in einer Schule Asbest befindet.
Diese Transparenz sollte eigentlich längst hergestellt werden. Bereits 2016 hatte die damalige rot-rot-grüne Regierung das Ziel formuliert, Berlin bis zum Jahr 2030 vollständig asbestfrei zu machen. Dazu sollte ein Asbestkataster erstellt werden, in dem alle Altlasten im Berliner Baubestand zu dokumentieren. Für Betroffene wollte der Senat eine Beratungsstelle einrichten. Bislang ist davon nichts geschehen.
Für den Baupolitischen Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, Andreas Otto (Grüne), ist das eine enttäuschende Bilanz. "Zufrieden sein kann man nicht. Ich hatte mir sehr viel mehr erhofft in der letzten Legislaturperiode. Wir haben die Koalition eigentlich noch mal verlängert, um wirklich die Sachen, die bisher nicht gelungen sind, mit einem größeren Kraftakt zu machen", sagte Otto im rbb-Interview. "In einer Schule sind 20 Kinder in einem Klassenraum, da müssen wir als öffentliche Hand garantieren, dass die sich nicht vergiften."
Sendung: rbb24 Abendschau, 22.04.2022, 19:30 Uhr
Beitrag von Roberto Jurkschat und Ute Barthel
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