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Audio: rbb24 Inforadio | 17.09.2022 | Tobias Schmutzler | Quelle: dpa/Jens Krick

Mögliche Neuwahlen in Berlin

Wahlkampf ohne Wahltermin

Noch ist unklar, ob und gegebenenfalls wann und wie in Berlin nachgewählt werden muss. Doch auch, wenn noch keine Plakate an den Laternen hängen: Begonnen hat der Wahlkampf schon längst - vor allem auch in der rot-grün-roten Koalition. Von Sebastian Schöbel

Katja Kipping hat eine rote Schürze über ihre rote Jacke gebunden, referiert über die Begrenzung von Energiepreisen und schneidet Porree. Eine Plexiglasscheibe schirmt sie vom Publikum auf dem Köpenicker Schlossplatz ab. Es sind vor allem ältere Menschen, die auf den Bierbänken davor Platz genommen haben. Sie warten auf die Lauch-Käse-Suppe, die neben der Berliner Sozialsenatorin in zwei großen Töpfen vor sich hin blubbert. Kippings Stimme kämpft gegen den Straßenlärm an, auf dem offenen Zelt, das die Berliner Sozialsenatorin umgibt, steht "Kochtour" geschrieben. An einem Stand werden Tüten mit dem Logo der Linken verteilt, auf denen steht "Wählen gehen!".

"Die Kochtour ist schon ganz, ganz lange geplant", antwortet Kipping auf die Frage, ob das hier bereits Wahlkampf sei. "Da gab es noch nicht so viele Spekulationen über mögliche Nachwahlen."

Nachwahlen wahrscheinlich

Genau diese Nachwahlen aber sind inzwischen sehr wahrscheinlich: Sowohl für den Bundestag als auch für das Abgeordnetenhaus werden Wählerinnen und Wähler in Berlin wohl ihre Stimme erneut abgeben müssen. Denn die Wahl im September 2021 war ein so gut dokumentiertes Desaster, dass wohl mindestens lokale Nach-, eventuell aber sogar berlinweite Neuwahlen drohen. Die Entscheidung liegt auf Landesebene beim Verfassungsgericht, auf Bundesebene beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestages - und danach vermutlich in Karlsruhe.

Die Berliner Politik jedenfalls läuft sich schon mal warm für den zweiten Wahl-Anlauf, manche Partei staubt nach rbb-Informationen hinter verschlossenen Türen bereits die Plakate ab und schreibt Kampagnenmaterial um. Auch die Spitzenkräfte der rot-grün-roten Koalition haben längst in den Wahlkampfmodus geschaltet - und zwar durchaus auch gegeneinander, wenn auch nicht immer explizit.

Kipping positioniert sich

So kocht Kipping nicht nur Lauch-Käse-Suppe, sie wirbt auch für ihr neuestes Projekt: Ein "Netzwerk der Wärme". Präsentiert im Kontext der Energiekrise hatten manche Medien umgehend triste Wärmestuben vor Augen: Orte, an denen sich Berlinerinnen und Berliner aufwärmen, weil sie daheim aus Kostengründen nicht mehr heizen können.

Doch Kipping und ihr Team bemühen sich umgehend, dieses Bild richtigzustellen. Gemeint sei viel mehr: "Es geht um etwas, das Hoffnung stiften kann", so die Linken-Politikerin im rbb-Interview. Vom Stadtteilzentrum im Problemkiez bis zum Pausenraum eines Startups will Kipping Orte schaffen, "wo Menschen zusammenrücken und sich austauschen". Am besten unter einer Dachmarke, dokumentiert auf einer Onlinekarte: "Gemeinsam statt einsam, Berlin hakt sich unter", formuliert es Kipping selbst, ein Motto für eine sozialere Hauptstadt.

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Wärme und Solidarität: Dass Kipping die aktuelle Energiekrise mit dem Markenkern der Linken vereint, hat nicht nur mit ihrem Aufgabenbereich im Senat zu tun. Das Image der "mitfühlenden Kümmerin" hatte bisher vor allem Giffey versucht, für sich zu reklamieren. Auch deswegen machte sie Berlin im Wahlkampf zu ihrer "Herzenssache" - ein Schlagwort, das Giffey und die SPD bis heute begleitet. Kipping setzt dem nun eine Alternative entgegen. Darauf angesprochen will die 44-Jährige aber von Konkurrenz nichts wissen. "Alle drei am Senat beteiligten Parteien stehen zusammen in der Verantwortung", so Kipping.

Zumindest in der Koalition war der Zusammenhalt zuletzt bei zentralen Fragen eher schwach. So freute sich zum Beispiel SPD-Fraktionschef Raed Saleh sehr öffentlich darüber, dass ihm und SPD-Chefin Franziska Giffey Ende August ein echter Coup gelang: Unmittelbar vor der Klausur des Senats überraschten die Sozialdemokraten ihre Koalitionspartner mit der unabgestimmten Ankündigung, Berlin werde eine eigene Nachfolgelösung für das beliebte 9-Euro-Ticket einführen. "Natürlich wird es da noch intensive Gespräche geben", verkündete Giffey damals mit einem breiten Lächeln. "Aber irgendwann muss man ja mal anfangen." Wer wollte, konnte das als Ansage an die Koalitionspartner, allen voran die Grünen und ihre Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch verstehen: Ihr redet, ich agiere. Grünen-Fraktionschef Werner Graf konnte nur noch überrumpelt von einem "Debattenbeitrag" sprechen, ein verbilligtes Ticket für drei Monate sei ohnehin nur "ein Strohfeuer".

Grüne suchen Antwort auf Giffeys Überraschung

Weniger als einen Monat später ist das 29-Euro-Ticket beschlossene Sache. Zwar macht Brandenburg nicht mit - auch, weil Giffey nicht einmal die märkischen Genossen eingeweiht hatte - doch Berlins Regierende hat nun einen zählbaren Erfolg in der Tasche. Gültig sein wird das Ticket nun just in dem Zeitraum, in dem die Entscheidung über Nachwahlen fällt. Nicht ohne Grund schimpfte die Brandenburger CDU umgehend über das "vorgezogene Wahlkampfgeschenk" Giffeys.

Dieses Geschenk hätte wohl auch gerne Bettina Jarasch präsentiert: Die grüne Verkehrssenatorin hatte selbst immer wieder laut über eine Nachfolgelösung für das 9-Euro-Ticket nachgedacht – bis auch sie von Giffey überrascht wurde. Ein ähnliches Manöver hatte die Verkehrssenatorin zuvor in Sachen Energiekrise versucht: Mit dem Vorschlag, dass Sehenswürdigkeiten in Berlin nachts nicht mehr angestrahlt werden. Dabei wollte die Koalition ihre Energiesparpläne kurz darauf gemeinsam präsentieren. Mit einem verdunkelten Brandenburger Tor gewinnt man allerdings auch weniger Herzen als mit einem verbilligten ÖPNV-Ticket.

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Mit ihrem wichtigsten Thema, der Mobilitätswende, hat es Jarasch allerdings auch schwer, wenn ihr der Koalitionspartner SPD das populärste Stück vor der Nase wegschnappt. Kurz vor der Entscheidung für das 29-Euro-Ticket wirbt sie persönlich in der Wilmersdorfer Straße für den ÖPNV und das Fahrrad als Auto-Alternativen. Offiziell ein PR-Termin der Verkehrsverwaltung – auf einer großen digitalen Anzeigetafel, die auf ein Lastenrad montiert wurde, steht jedoch auch in großen Buchstaben "Sprechen Sie mit Senatorin Bettina Jarasch", daneben ein großes Foto der Grünen-Politikerin. "Dieses ganze Wahlkampfgerede schiebe ich im Moment weit von mir", antwortet Jarasch. Anders sei doch so eine Kampagne für die Mobilitätswende gar nicht machbar. "Ich bin mitten in einem Stadtumbau", sagt Jarasch.

Dann fügt sie noch hinzu: "Ich hoffe, ich habe dafür genügend Zeit."

Sendung: rbb24 Abendschau, 17.09.2022, 19:30 Uhr

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