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Quelle: imago images/Olaf Wagner

Prozess vor Amtsgericht Tiergarten

Neonazi soll Jamaikaner mit Messer angegriffen haben

Der Neuköllner Neonazi Maurice P. soll einen Jamaikaner lebensbedrohlich verletzt haben. Der von Ermittlern als Gefährder eingestufte Mann könnte schon bald in einem anderen Prozess eine wichtige Rolle spielen: der Neuköllner Anschlagsserie. Von Jo Goll

Die dunklen Haare streng zurückgekämmt, gepflegter Vollbart: Maurice P. sitzt auf der Anklagebank und schaut mit wachen Augen immer wieder in den Saal. Mit seinem hellblauen Hemd und seinen schwarzen Sportsneakern sieht der 29-Jährige aus wie ein ganz gewöhnlicher junger Mann. Doch der ungelernte Arbeiter ist – folgt man den Worten des Staatsanwalts – ein fanatischer Neonazi.

Hitler-Gruß und Stich mit Cuttermesser

Laut Anklage sollen Maurice P. und ein Gesinnungsgenosse am 4. Juli 2021 nachts gegen 3:15 Uhr in Berlin-Neukölln auf eine Gruppe junger Männer und Frauen getroffen sein, die sie sofort in ein politisches Gespräch verwickeln. Nach Zeugenaussagen habe sich P. im Verlauf des Gesprächs über "Kanacken" aufgeregt, soll von der angeblichen Überfremdung Deutschlands gesprochen haben. Als sich die jungen Leute mit den Worten "wir chillen nicht mit Nazis" zu verabschieden versuchen, haben P. und sein Neonazi-Kumpel angeblich für alle sichtbar zwei Mal den rechten Arm zum "Hitler-Gruß" gehoben.

Wenige Stunden nach diesem Treffen soll es dann zu einer weiteren Straftat gekommen sein. Gegen 6 Uhr unterhält sich P. - laut Anklage inzwischen stark alkoholisiert und unter Kokain-Einfluss – mit einem Jamaikaner und dessen Begleitern an einem Döner-Imbiss in Berlin-Rudow. P. soll sich dabei damit gerühmt haben, rechtsradikal zu sein und Adolf Hitler zu verehren. Schwarze nennt er immer wieder "Nigger" und schimpft auf Juden, so die Anklage.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs soll P. plötzlich eine Bierflasche nach dem 35-jährigen Jamaikaner geworfen haben, es kommt zu einem Kampf, beide Seiten prügeln mit Fäusten aufeinander ein. Als P. mehrmals bekundet, er wolle nicht kämpfen, lässt sein späteres Opfer von ihm ab. Danach zieht P. aber ein in voller Länge herausgezogenes Cuttermesser und sticht dem Jamaikaner in den Hals. So sieht es die Staatsanwaltschaft. Der Stich verfehlt nur knapp die Halsschlagader.

P. nimmt sofort wahr, dass er sein Gegenüber mit dem langen Schnitt und der heftigen Blutung schwer, möglicherweise sogar tödlich verletzt hat. Nach Zeugenaussagen rennt er auf die Straße und bittet einen Passanten, die Polizei zu rufen. Daraufhin habe P. versucht, vom Tatort zu fliehen, wird aber kurze Zeit später von Polizeibeamten festgenommen. Der verletzte Jamaikaner wird im Krankenhaus sofort versorgt, er überlebt die Attacke, leidet aber bis heute unter den psychischen Folgen der Tat.

NPD und "Combat 18"

Für diese und weitere Taten muss sich Maurice P. seit Dienstag vor dem Amtsgericht Tiergarten verantworten. Ursprünglich lautete die Anklage auf versuchten Mord. Das Berliner Landgericht ging jedoch bereits vor der Eröffnung des Prozesses davon aus, dass Maurice P. von der ihm zur Last gelegten Tötungsabsicht wieder "zurücktrat", den mutmaßlichen versuchten Mord also nicht habe vollenden wollen.

Die Folge dieser juristischen Bewertung: Maurice P. muss sich nicht vor einem Schwurgericht verantworten, sondern "nur" vor dem Berliner Amtsgericht Tiergarten. In dieser niedrigsten Instanz wird nur dann verhandelt, wenn eine Haftstrafe von höchstens vier Jahren zu erwarten ist.

Neonazi trifft Neonazi

Für die Messer-Attacke gegen den 35-jährigen Jamaikaner stellt das Amtsgericht Tiergarten am 5. Juli 2021 einen Haftbefehl aus, P. kommt in Untersuchungshaft. Dort begegnet er dem Neonazi Tilo P., der ebenfalls in U-Haft gelandet war, weil er im Verdacht stand, einen Taxifahrer attackiert und rassistisch als "Kanaken" beleidigt zu haben.

Tilo P. schien damals über die Begegnung mit seinem Gesinnungsgenossen Maurice P. erfreut gewesen zu sein, denn schnell schüttet er ihm sein Herz aus. Die Behörden, so berichtete der Neonazi seinem Gesinnungsgenossen Maurice P., wollten ihm neben der Attacke auf den Taxifahrer "jetzt auch noch wegen der anderen Sachen" etwas anhängen. Und genau das schien Tilo P. für ungerecht zu halten, denn er habe doch "nur Schmiere" gestanden.

Der Verfassungsschutz hörte mit

Was der damals 38-Jährige nicht wusste: Von der Gefängnis-Unterhaltung erfuhr auch der Berliner Verfassungsschutz. Der Nachrichtendienst fasste die Erkenntnisse in einem sogenannten Behördenzeugnis zusammen. Der Inhalt des Dokuments ist rbb24 Recherche bekannt. Wie der Nachrichtendienst von der Unterhaltung erfuhr, wird darin nicht thematisiert. Der Verfassungsschutz bemühte in der Zusammenfassung zudem den Konjunktiv.

Ob die Unterhaltung sich wirklich so zutrug, ist nicht bewiesen. Als die Ermittler der Neuköllner Anschlagsserie bei Polizei und Generalstaatsanwaltschaft das Behördenzeugnis des Verfassungsschutzes lasen, dürften sie dennoch erfreut gewesen sein. Denn mit den "anderen Sachen" meinte Tilo P., sollte er den Satz tatsächlich so geäußert haben, möglicherweise die Serie rechtsextremer Straftaten, an der sich die Ermittler über Jahre die Zähne ausgebissen hatten: die Neuköllner Anschlagsserie.

Maurice P. könnte nun Kronzeuge gegen Tilo P. werden

So bekommt das Dienstag gestartete Verfahren eine neue Bedeutung: Es könnte Einfluss haben auf den schon seit Ende August vor dem Amtsgericht Tiergarten laufenden Prozess zur Neuköllner Anschlagsserie: Dort müssen sich die beiden Hauptverdächtigen Tilo P. und Sebastian T. unter anderem wegen der Brandanschläge auf die Autos des Linken-Politikers Ferat Kocak und des Buchhändlers Heinz Ostermann verantworten.

In diesem Verfahren soll Maurice P. nun möglicherweise als Belastungszeuge gegen Tilo P. gehört werden. Sehr zum Ärger von dessen Verteidiger Mirko Röder. Er hält im Gespräch mit rbb24 Recherche einen gewalttätigen Rechtsextremisten wie Maurice P. als Zeugen für denkbar ungeeignet: "Wir brauchen dringend die Verfassungsschutzakte von Maurice P., um eine rechtsstaatsgemäße Verteidigung meines Mandanten Tilo P. führen zu können."

Sendung: rbb24 Inforadio, 04.10.2022, 18:00 Uhr

Beitrag von Jo Goll

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