Hunderte Impftermine ausgefallen
Kein anderes Bundesland wurde so stark von den Affenpocken getroffen wie Berlin. 45 Prozent der Fälle in Deutschland wurden in der Hauptstadt registriert. Doch nun musste die Impfkampagne pausieren. Die Verwaltung hatte Verträge nicht rechtzeitig verlängert. Von O. Noffke und K. Spremberg
In Berlin konnten zu Jahresbeginn tagelang keine Impfungen gegen die sogenannten Affenpocken durchgeführt werden. Die Senatsverwaltung hatte zwei Verträge, auf denen die Impfkampagne des Landes fußte, auslaufen lassen. Deshalb war weder die Logistik und der Transport der Vakzine zu den Praxen geregelt, noch konnten dort die entsprechenden Leistungen bei den Krankenkassen abgerechnet werden. Offenbar musste eine mittlere dreistellige Zahl an Impfterminen abgesagt werden.
Am 2. Januar wurden die betroffenen Praxen von der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) darüber informiert, dass nach dem Jahreswechsel vorerst keine Impfungen mehr durchgeführt werden können. "Die im Dezember 2022 sehr weit fortgeschrittenen Verhandlungen über eine Verlängerung der Kooperation zu den bisherigen Konditionen konnten leider noch nicht erfolgreich abgeschlossen werden", heißt es in dem Schreiben. Affenpocken-Impfungen sind keine Kassenleistung, deswegen hatte das Land die Kostenübernahme geregelt.
Nachdem der rbb am Mittwoch berichtet hatte, teilte ein Sprecher der zuständigen Senatsverwaltung am Mittag mit. "Der Vertrag wurde inzwischen unterzeichnet, sodass die Finanzierung der Impfungen wieder sichergestellt ist. Das bedeutet: Die Praxen können ab sofort weiter Impfungen vornehmen." Man habe selbstverständlich alles daran gesetzt, die eingetroffene Situation zu verhindern. "Wir bitten die dadurch entstandenen Unannehmlichkeiten für die Praxen und Impfwilligen zu entschuldigen." Die betreffenen Praxen seien am Nachmittag informiert worden, teilte die KV Berlin mit.
Die Pressestelle der Senatsverwaltung für Gesundheit bestätigte am Dienstag auf Anfrage von rbb|24 die Impfunterbrechung. "Leider kam es bei den beabsichtigten Verlängerungen der Verträge über den 31.12.2022 hinaus verwaltungsintern zu Verzögerungen", heißt es schriftlich. Ein Grund für das Versäumnis wurde auch auf Nachfrage nicht deutlich. Die Behörde sei zuversichtlich, dass in den kommenden Tagen Anschlussverträge unterzeichnet werden könnten. "Eine Einstellung der Impfung ist im Moment nicht beabsichtigt."
Dennoch liegt die Impfkampagne seit fast zwei Wochen wie im Tiefschlaf. Im vergangenen Sommer war Berlin noch besonders schwer vom Ausbruch der Affenpocken betroffen. Ein halbes Jahr später müssen Praxen ihre Patienten vertrösten; während gleichzeitig bereits gelieferte, einwandfreie Impfdosen in ihren Gefriergeräten vorerst liegen bleiben müssen.
Das Praxisteam Friedrichshain etwa sagt seit Jahresbeginn 30 bis 60 Impftermine pro Tag ab. "Wir müssen jetzt warten auf die Entscheidung vom Senat", so André Kirchner vom Empfangsmanagement der Praxis gegenüber rbb24 Inforadio. "Und die [Patienten] müssen dann halt unsere Website checken, wenn es wieder Impfstoff gibt; und dann müssen sie sich wieder neu-einbuchen und neue Termine machen."
Dieser Prozess sei mit einem enormen Mehraufwand für die Mitarbeitenden verbunden, sagt Kirchner. Für jede Absage müsse einzeln eine E-Mail abgeschickt werden. Betroffen seien vor allem Termine zur zweiten Impfung. Aber nicht nur. "Es gibt auch Erstimpfungen. Es gibt auch Patienten, die letztes Jahr keine Termine mehr gekriegt haben", sagt der Praxismanager, "weil ja auch nicht alle Praxen oder Krankenhäuser impfen."
Nicht alle Patienten könnten rechtzeitig erreicht werden, sagt Facharzt Ingo Ochlast. "Viele lesen das einfach nicht und stehen dann hier wieder vor der Tür, wollen die Impfung bekommen und verstehen es dann einfach auch nicht. Die sagen dann: Okay, dann bezahle ich die Impfung." Das könnten er und seine Kollegin jedoch nicht machen, da ihnen der Impfstoff rein rechtlich nicht gehöre. "Die meisten haben Verständnis dafür, aber es ist schon sehr frustrierend."
Ärgerlich sei, dass aufgrund der aktuell geringen Infektionslage, die Bereitschaft zur zweiten Impfung in letzter Zeit bereits deutlich nachgelassen habe, sagt Ochlast. Er geht davon aus, dass einige ihre abgesagten Termine nicht nachholen werden. "Es kann sein, dass uns das alles wieder um die Ohren fliegt", sagt er mit Blick auf die Infektionslage.
Man wisse zwar, dass schon die erste Dosis einen Schutz aufbaue, aber es fehle schlicht die Erfahrung mit der Krankheit und dem Vakzin. Einen Affenpocken-Ausbruch in diesem Ausmaß hatte es außerhalb Afrikas bis zum Frühjahr 2022 noch nie gegeben.
Spezialist Ochlast hält die Unterbrechung für problematisch, da aufgrund der fehlenden Erfahrung, noch nicht alle Fragen rund um den Impfschutz restlos geklärt seien. "Reicht eine Impfung oder werden zwei gegeben? Was ist mit den Immunsupprimierten; was ist mit den HIV-Patienten; was ist mit Patienten, die in ihrer Kindheit schon einmal gegen die normalen Pocken geimpft wurden? Reicht eine Booster-Impfung oder müssen es zwei sein?" Bislang hätten nur reine "Labordaten" vorgelegen, sagt er.
Auch in anderen betroffenen Praxen ist der Frust groß. Zwei Fachärzte für Infektiologie aus Prenzlauer Berg haben den Brief der KV auf ihrer Webseite veröffentlicht. Man erlebe die Situation mit Unglauben und Entsetzen, heißt es dort. Insbesondere, da die Senatsgesundheitsverwaltung der Praxis am 16. Dezember noch auf Nachfrage mitgeteilt habe, dass die Impfkampagne bis Ende Juni 2023 fortgesetzt werde. 50 Termine, die in den ersten beiden Wochen des Jahres geplant waren, habe man absagen müssen, heißt es.
Eine Schwerpunktpraxis in Mitte teilt auf ihrem Online-Auftritt mit: "Leider nimmt das Chaos rund um die Affenpocken (MPXV) kein Ende." Resigniert schreiben die Mediziner: "Gerne steht man Euch sicher bei der Senatsverwaltung für Fragen zur Verfügung."
Das Praxisteam Friedrichshain war von der Mitteilung der KV Berlin ebenfalls geschockt. Man sei im Nachhinein froh gewesen, dass die Praxis nach den Feiertagen erst am 3. Januar wieder geöffnet hatte. Denn die Mitteilung der KV sei erst nachmittags am Vortag eingetroffen. Berliner Praxen, die am 2. Januar noch gegen Affenpocken geimpft haben, können diese Leistungen nun nicht bei den Krankenkassen abrechnen.
Auch bei HIV-Schwerpunktarzt Ingo Ochlast ist der Frust auf die Berliner Politik groß. Die Praxen müssten nun die Versäumnisse in der Organisation der Impfkamgne austragen, sagt er. "Es wurden Dinge gesagt, die dann hinterher wieder zurückgenommen wurden. Es wurden Impfempfehlungen ausgegeben, die dann wieder korrigiert wurden. Das zieht sich jetzt wie ein roter Faden durch diese ganze Impfkampagne."
Laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) wurden seit Beginn des Ausbruchs bundesweit 3.677 Fälle von Affenpocken registriert [rki.de]. Der Großteil davon entfällt auf Berlin. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) hat bislang 1.669 Fälle in der Stadt gezählt. Vier davon entfielen auf Frauen [berlin.de/lageso]. Beim Großteil der Betroffenen handelt es sich demnach um Männer, die Sex mit Männern haben.
Allerdings gehen Experten davon aus, dass diese Gruppe möglichen Symptomen eine erhöhte Aufmerksamkeit widmet und deshalb besonders viele Fälle entdeckt werden konnten. Insbesondere bei leichten Krankheitsverläufen könnten Symptome fehlinterpretiert werden.
Seit August sind die wöchentlich registrierten Fallzahlen in Deutschland rückläufig. In Berlin wurden zuletzt innerhalb mehrerer Wochen keine neuen Fälle entdeckt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt jedoch noch keine Entwarnung und deklariert den Ausbruch nach wie vor als "Gesundheitliche Notlage mit internationaler Tragweite" [Informationen in englischer Sprache: who.int]. Die WHO hat zudem angekündigt, dass die Krankheit in Mpox umbenannt werden soll.
Affenpocken können durch engen Hautkontakt übertragen werden. Die meisten Infizierten erleben milde Symptome; allerdings sind auch schwere Verläufe möglich. Insbesondere Kinder und Personen mit geschwächtem Immunsystem sind davon betroffen. Das RKI teilt zudem mit, dass häufig, aber nicht immer, allgemeine Krankheitssymptome wie Fieber, Abgeschlagenheit oder Frösteln auftreten können.
Nach einer Infektion können sich unter anderem im Schambereich, in den Achselhöhlen, auf den Schleimhäuten oder im Gesicht die typischen, schmerzhaften Knötchen bilden. Sie enthalten eine hochinfektiöse Flüssigkeit. Das Platzen und Ausheilen der Knötchen kann Narben hinterlassen. Eine Impfung kann, nach Angaben der Gesundheitsbehörden, den genannten Symptomen effektiv vorbeugen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 11.01.2023, 12:00 Uhr
Beitrag von Oliver Noffke und Konrad Spremberg
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