Vergünstigungen in Berlin
Der Berlinpass ist Geschichte. Mit dem neuen Berechtigungsnachweis sollen Menschen in Berlin unbürokratisch Zugang zu Vergünstigungen haben. Praktisch zeigen sich viele überfordert. Bei einigen Kindern bringt die Umstellung zudem erhebliche Probleme.
Die Idee hinter dem Berlinpass war stets simpel: Wer wenig Geld hat, sollte nicht verdammt sein, deshalb auch weniger am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Wer also etwa auf Sozialhilfe angewiesen war, konnte mit dem Berlinpass Vergünstigungen in Anspruch nehmen - beispielsweise für Freizeitangebote. Auch das Sozialticket bei der BVG ließ sich mit dem Pass erwerben.
So einfach die Grundidee, so bürokratisch überladen war jedoch der Weg zum Pass. Wer ihn haben wollte, musste gleich mehrere Anträge stellen. Wohl auch wegen dieses behörden- und antragsintensiven Weges gab es häufig Kritik von Wohlfahrtsverbänden. Auch eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Soziales erklärte rbb|24, dass in den vergangenen Jahren trotz "erheblicher Anstrengungen" offenbar nicht immer alle Berechtigten über die Möglichkeiten informiert waren, die ihnen eigentlich zugestanden hätten. Das heißt, es gab Hilfen - sie kamen nur nicht bei allen an.
Eine Lösung des Problems kündigte der Berliner Senat im Oktober 2021 an: Statt viele Anträge bei verschiedenen Behörden zu stellen, sollten Berechtigte künftig automatisch ein Schreiben zugeschickt bekommen, um Vergünstigungen in Anspruch nehmen zu können. Organisieren und versenden sollten es jene Stellen, die auch die finanziellen Hilfen genehmigen. Der Berlinpass sollte 2023 durch den unkomplizierteren "Berechtigungsnachweis Berlin-Ticket S" abgelöst werden.
Sozialstadträte beklagten jedoch noch im Dezember 2022 in einem Brief an den Senat das neue Procedere. Sie fürchteten Überlastungen bei den Sozialämtern, baten um Aufschub. Den gab es nicht. Seit dem Jahreswechsel wird der Berechtigungsnachweis nun versendet. Jetzt halten viele Menschen in Berlin den Weg zur Hilfe zwar in den Händen, sie wissen nur offenbar nichts damit anzufangen.
Tim Richter, Bezirksstadtrat für Soziales in Steglitz-Zehlendorf (CDU) beschreibt im Gespräch mit rbb|24, wie eine ältere Dame ihn persönlich unter Tränen im Rathaus aufgesucht habe. "Sie kam auf mich zu und sagte, dass sie nicht wüsste, ob sie nun überhaupt noch mit der S-Bahn fahren könnte. Plötzlich war da für die Dame also etwas Neues im Umlauf - etwas, das sie für ihr Leben (also für das Sozialticket) benötigt, von dem sie aber gar nicht wusste, wie sie es einsetzt, weil sie noch nie davon gehört hatte. Nach einem Jahr, das ohnehin voller Sorgen, Bescheide, Ankündigungen und Unsicherheiten war, hat die Umstellung jetzt das Fass wohl zum Überlaufen gebracht."
Zwar gibt die Senatsverwaltung für Soziales gegenüber rbb|24 an, dass man "auf dem Webauftritt und durch Pressearbeit umfassend über die Umstellung informiert habe", die ältere Dame konnte man damit aber offenbar trotz erheblicher Anstrengungen nicht erreichen. Auch ein dem Berechtigungsnachweis angehängtes Informationsschreiben konnte die Fragezeichen nicht gleich auflösen. Falko Liecke, Bezirksstadtrat für Soziales (CDU) in Neukölln schließt sich der Kritik seines Amtskollegen an. Es habe im Vorfeld der Umstellung keine ausreichenden Informationen für Bürger gegeben. "Anfragen zum Berechtigungsnachweis werden nun auf die Bezirke abgewälzt. Die Umsetzung der Umstellung ist eine Katastrophe für Ämter und Bürger." Die Ämter seien personell gar nicht in der Lage, alle Fragen umfassend zu beantworten.
Eine zusätzliche Verunsicherung könne außerdem entstanden sein, weil die Bezirke momentan noch mit dem Versand der Nachweise beschäftigt seien. Auch Matthias Steuckardt, Bezirksstadtrat für Soziales in Tempelhof-Schöneberg sagt, dass man derzeit noch versuche, alle Nachweise zeitnahe zu verschicken. Die Aufgabe sei jedoch sehr arbeitsintensiv. Aus anderen Bezirken heißt es, die Mitarbeiter müssten händisch QR-Codes auf Bescheide kleben, Tausende Briefe falten, kuvertieren und verschicken.
Die ältere Dame jedenfalls, die sich unter Tränen direkt an den Bezirksstadtrat in Zehlendorf gewendet hatte, hat durch den neuen Berechtigungsnachweis keine Ansprüche verloren. Sie bekommt, wie rund 700.000 weitere Menschen immer noch Vergünstigungen. Statt Berlinpass muss sie dafür nun aber den QR-Code auf dem Berechtigungsnachweis vorlegen.
Auch kann sie weiterhin ein Sozialticket bei der BVG erwerben - zumindest grundsätzlich. Für den Kauf benötigt sie nun nämlich ein weiteres Dokument: die "VBB-Kundenkarte Berlin S". Diese Karte muss sie online beantragen [vbb-kundenkarte.de], zum Kauf vorlegen und danach bei Kontrollen vorzeigen. Auch hier habe es etliche Probleme gegeben, sagt Liecke. Viele seien mit der Beantragung im Online-Portal überfordert gewesen. Etliche hätten Angst gehabt, nun nicht rechtzeitig ein rabattiertes Ticket zu bekommen. Auf Nachfrage von rbb|24 berichtet die BVG, dass inzwischen anfängliche Irritationen ausgeräumt werden konnten. Täglich könnten nun Tausende Tickets ausgestellt werden. Ferner gelte bis zum 31.03. eine Übergangsregelung (siehe unten).
Die Geschichte des Berlinpasses ist damit jedoch nach wie vor nicht abgeschlossen. Für Kinder und Jugendliche nämlich soll auch künftig ein Berlinpass gelten: der Berlinpass-BuT. Kinder aus Familien, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, bekamen diesen schon in der Vergangenheit automatisch zugesandt - von den Stellen, bei denen finanzielle Unterstützung beantragt wurde, sofern eine Schul- oder Kitabescheinigung vorlag. Mit dem Berlinpass BuT hatten Kinder unter anderem Anspruch auf kostenloses Kita- oder Schulessen und Nachhilfeangebote. Auf den Internetseiten der Senatsverwaltung für Soziales [FAQ zum Berechtigungsnachweis] war zuletzt zu lesen, dass, obwohl der Berlinpass nun grundsätzlich durch den Berechtigungsnachweis ersetzt werde, Kinder und Jugendliche, "grundsätzlich keinen Berechtigungsnachweis" erhalten werden und der Berlinpass BuT weiter gelte. Man sei also davon ausgegangen, dass für Kinder und Jugendliche auch nach dem Jahreswechsel alles beim Alten bleibe, sagt Sarah Zahoui von der Berliner BuT-Beratungsstelle [but-beratung.de] im Gespräch mit rbb|24.
In der Praxis stelle man nun aber fest, dass viele Kinder zum Jahreswechsel nun doch den neuen Berechtigungsnachweis statt eines Berlinpasses BuT zugestellt bekommen hätten. Besonders häufig sei das der Fall, wenn die Leistungen von Jobcentern oder Wohngeldstellen bezogen würden. Anfragen dahingehend würden auch beim Sozialamt aufkommen, sagt Richter. Auskünfte darüber, wie es dazu gekommen sei, könne sein Amt aber nicht geben. Auf Nachfrage von rbb|24 gab es zunächst keine Rückmeldungen dazu, in welchem Ausmaß möglicherweise Bescheide falsch ausgestellt worden seien.
Wie der Schein am Ende heißt, könnte eigentlich egal sein. Allerdings benötigen Schulen und Kitas für die Abrechnung der in Anspruch genommenen Leistungen den Berlinpass BuT. In der Beratung treffe man nun also auf Eltern, deren Kinder zwar einen Anspruch auf kostenloses Essen hätten, diesen Anspruch aber nicht geltend machen könnten, weil sie ein falsches Dokument in den Händen hielten, sagt Zahouri. "Wir haben jetzt wirklich täglich Anrufe zu diesem Thema von Eltern und Schulen. Auskunft geben können wir noch nicht. Wir warten selbst auf eine offizielle Antwort des Senats, mit der wir umgehen können." Die Senatsbildungsverwaltung teilte auf Nachfrage von rbb|24 schriftlich mit, dass man erwarte, dass Familien den entsprechenden Berlinpass alsbald erhalten. "Für eine Zwischenzeit plädieren wir für unbürokratische Lösungen im Sinne der Kinder und Jugendlichen."
Sarah Zahoui empfiehlt ratsuchenden Eltern derweil, sich direkt mit den Leistungsstellen in Verbindung zu setzen und mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass der Berlinpass BuT entgegen aller Erwartungen nicht ausgestellt worden sei. Auch Kita-Leitungen würden entsprechend handeln und für Eltern Infomaterialien zusammenstellen.
Was sie in der Beratung so lange mache? "Zuhören, da sein, trösten und aufzeigen, welche Möglichkeiten der Teilhabe noch gegeben sind - auch ohne Berlinpass", sagt Zahoui.
Sendung: rbb24 Inforadio, 13.01.2023, 19:00 Uhr
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Beitrag von Fabian Stratmann
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