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Audio: rbb24 Inforadio | 11.01.2023 | Anna Corves | Quelle: dpa/Patrick Pleul

Neues Chancenaufenthaltsrecht

Der Ausweg aus den Kettenduldungen

Viele Tausend Menschen leben seit Jahren nur geduldet in Deutschland. Sie sind ausreisepflichtig, es sprechen aber Gründe gegen die Abschiebung. Rechte haben Geduldete in Deutschland kaum. Mit dem neuen Aufenthaltsrecht bekommen sie eine Chance. Von Anna Corves

Hadi-Hashim Rozhbayani faltet ein rosarotgrünes Ausweispapier auseinander. 'Aussetzung der Abschiebung' steht ganz oben, 'Duldung, Kein Aufenthaltstitel!' darunter. Ein breiter roter Balken streicht den Ausweis von links oben nach rechts unten quasi durch. Der 51-Jährige seufzt, er schämt sich: "Wenn jemand diesen roten Balken sieht, könnte er denken: Dieser Mann ist nicht gut, hat vielleicht was verbrochen. Aber ich habe keine Probleme mit der Polizei. Ich lebe ein ruhiges Leben."

Hadi-Hashim Rozhbayani | Quelle: rbb/Anna Corves

Hadi-Hashim Rozhbayani ist Kurde aus dem Irak. Mit seiner Frau Bekhal kam er 2017 nach Berlin, hier wurde Abdullah geboren, ihr einziges Kind. Der Zweijährige spielt im Wohnzimmer der kleinen Weddinger Wohnung, während seine Mutter Süßigkeiten und Kaffee auftischt. Der Asylantrag der Rozhbayanis wurde abgelehnt. Sie gelten als ausreisepflichtig, aber ihre Abschiebung wurde und wird ausgesetzt. Das bedeutet "Duldung" juristisch. Emotional bedeutet sie für Hadi-Hashim Rozhbayani: "Ich habe immer Angst, dass die Polizei kommt und sagt: Bitte ab zum Flughafen und zurück. Vielleicht kommt sie heute? Vielleicht morgen?"

Sicherheit für 18 Monate

Praktisch bedeutet Duldung, dass die Menschen ein Leben führen, bei dem seit Jahren die Pausentaste gedrückt ist: Die meisten dürfen nicht arbeiten, ihr Bewegungsradius ist begrenzt, sie müssen regelmäßig die Verlängerung ihrer Duldung beantragen. Hadi-Hashim Rozhbayani hat getan, was ging: Sprachkurse belegt, den Integrationskurs absolviert. "Deutschland ist ein gutes, ein sicheres Land für meine Familie." Deswegen setzt er jetzt seine ganze Hoffnung auf das neue Chancenaufenthaltsrecht. Frühestmöglich, am 2. Januar, hat er den Antrag bei der Berliner Ausländerbehörde gestellt.

Wird Rozhbayani das Chancenaufenthaltsrecht erteilt, heißt das: Seine Familie bekommt eine Aufenthaltserlaubnis, wäre vor Abschiebung geschützt. Jedenfalls für 18 Monate.

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"Nur eine Mini-Amnestie"

Nur wenige Minuten von Rozhbayanis Wohnung entfernt, kämpft Nicolas Chevreux in seinem kleinen Büro gegen die Übermacht der Akten. Er arbeitet als Asyl- und Aufenthaltsberater für die Arbeiterwohlfahrt. Der Großteil seiner Klienten hat nur eine Duldung. Dass Deutschland sie nicht abschiebt, kann viele Gründe haben, erklärt Chevreux: "Vielleicht fehlt der Reisepass, vielleicht nimmt das Heimatland sie nicht zurück. Vielleicht verhindert es die aktuelle Lage vor Ort, wie etwa in Afghanistan."

Geduldeten, die vor dem Stichtag 31. Oktober 2017 nach Deutschland gekommen sind, soll das Chancenaufenthaltsrecht einen Weg aus den Kettenduldungen eröffnen. Bundesweit kommen dafür etwa 140.000 Menschen infrage, in Berlin rund 7.500. Das sei ein guter Versuch der Bundesregierung, findet Asylberater Chevreux. "Aber es ist nur eine Mini-Annestie. Es ist ja keineswegs so, dass alle bleiben dürfen."

Letztlich entscheidet der Sachbearbeiter

Der Chancenaufenthalt gilt nur für 18 Monate. In dieser Zeit müssen die Menschen mehrere Hürden nehmen - dann erhalten sie ein dauerhaftes Bleiberecht. Andernfalls fallen sie zurück in die Duldung. Die Auflagen sind: keine schwerwiegenden strafrechtlichen Verurteilungen. Deutschkenntnisse auf Niveau A2. Und: der eindeutige Nachweis ihrer Identität. Daran könnten viele Geduldete scheitern, befürchtet Nicolas Chevreux. Jene ohne Reisepass. "Man spricht immer von denen, die keinen Reisepass besorgen wollen. Ich habe Hunderte Klienten, die gerne einen Reisepass hätten, aber keinen kriegen." Weil der Herkunftsstaat beispielsweise keine Botschaft in Deutschland hat oder nicht kooperiert.

Nicolas Chevreux | Quelle: rbb/Anna Corves

Um dem Rechnung zu tragen, kann die Ausländerbehörde von der Vorlage des Passes absehen. Wenn der Antragssteller nachweisen kann, alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung getroffen zu haben. Darüber entscheiden die Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde. Nicolas Chevreux findet das problematisch: "Die Sachbearbeiter haben großen Ermessensspielraum und nutzen den auch sehr unterschiedlich", sagt Nicolas Chevreux. Ein Risiko für Geduldete, die hoffen, sich über den Chancenaufenthalt ein Bleiberecht erarbeiten zu können.

Bedingung für Erfolg: Vertrauen

Denn das ist eine weitere Bedingung: Sie müssen ihren Lebensunterhalt überwiegend sichern können, also ein zuverlässiges Einkommen haben, das etwa 51 Prozent von Bürgergeld plus Miete entspricht. Wer den Chancenaufenthalt bekommt, darf arbeiten. Trotzdem wird der Lebensunterhalt eine hohe Hürde sein, sagt Engelhard Mazanke. Er leitet die Berliner Ausländerbehörde. "Ich höre von vielen Betrieben, dass ihnen das Risiko zu hoch ist, jemanden einzustellen, einzuarbeiten – und dann vielleicht wieder zu verlieren, weil der Ausländerbehörde der Pass fehlt."

Dass Deutschland Menschen nur eine Chance auf ein Bleiberecht gibt, sei ein Novum, betont Mazanke. Die Flüchtlinge aus der Ukraine etwa hätten direkt ein Aufenthaltsrecht mit Arbeitserlaubnis erhalten. Das Chancenaufenthaltsrecht solle den Zugewanderten der Jahre 2015/2016 nachträglich eine Perspektive bieten. Ob das gelingen wird? "Da wage ich ehrlich gesagt keine Prognose", sagt Mazanke. "Das hängt maßgeblich davon ab, ob Vertrauen entsteht."

Vertrauen bei potentiellen Arbeitgebern. Vertrauen bei denen, die es beantragen. Hadi-Hashim Rozhbayani hat Vertrauen. Er ist ausgebildeter Krankenpfleger, hat im Irak 15 Jahre in diesem Beruf gearbeitet. In Deutschland würde er gerne im Pflegeheim arbeiten. "Ich will hart arbeiten, Geld verdienen." Er ist optimistisch, dass er alle Auflagen des Chancenaufenthaltsrechts erfüllen wird. Zurück in die Duldung zu fallen - das wäre schrecklich, sagt er und blickt auf seinen zweijährigen Sohn, einen gebürtigen Berliner. Auch den Ausweis des kleinen Abdullah quert ein breiter roter Balken: Nur geduldet, Ausreisepflicht.

Sendung: rbb24 Inforadio, 11.01.2023, 9:25 Uhr

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Beitrag von Anna Corves

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