Großsiedlung in Berlin-Spandau
In der Spandauer Großsiedlung Falkenhagener Feld leben rund 30.000 Menschen, viele von ihnen beziehen kleine Einkommen oder Sozialleistungen. Quartiersräte warnen, dass Inflation und hohe Energiepreise das Klima im Kiez zum Kippen bringen könnten. Von Wolf Siebert
Als die Großsiedlung "Falkenhagener Feld" in den 1960er Jahren in Berlin-Spandau gebaut wurde, galt sie als Musterbeispiel des sozialen Wohnungsbaus: 9.000 Wohnungen mit Zentralheizung und Balkon, vier bis sechzehn Stockwerke, ein Altenwohnheim und viele Grünflächen. Ein Wohnviertel für Menschen mit geringen Einkommen. 1,90 Mark Miete pro Quadratmeter wurden damals verlangt - das sind rund 95 Cent nach heutiger Währung.
Auch heute leben im Falkenhagener Feld viele Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben, berichten Ute Gourri und Jörg Handrick. Die beiden sind sogenannte Quartiersräte im Falkenhagener Feld. Solche Quartiersräte, bestehend aus rund 20 Personen, befassen sich mit Problemen in einem Kiez, schauen, was möglich wäre und bestimmen mit bei der Verteilung von Fördergeldern.
Gourri, die pensionierte Justizbeamtin, und Handrick, der als Lehrer und Erzieher arbeitet, machen sich Sorgen um die Lage in der Siedlung und haben sich deshalb an einem Offenen Brief an die Politik gewandt [falkenhagener-feld-ost.de]. "Rund 50 Prozent der Kinder sind hier von Armut bedroht, 27 Prozent der Menschen, die hier leben, bekommen Sozialleistungen, acht Prozent der Menschen sind arbeitslos", heißt es darin. "Durch die Folgen des Ukraine-Kriegs, durch die Verteuerung von Strom und Gas und durch die Inflation geraten viele in existentielle Not." Auch die Entlastungspakete der Bundesregierung würden das nur zum Teil auffangen.
Wie die Quartiersräte aus Gesprächen wissen, sind vor allem steigende Mieten für zahlreiche Anwohner ein großes Thema. Manche Häuser sind nämlich inzwischen in keinem guten Zustand mehr: Die Quartiersräte erzählen von Rohrbrüchen und kaputten Fahrstühlen. Auch müssten viele Häuser energetisch saniert werden, nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern auch um die Kosten von Heizung und Strom zu verringern. Ein Teil dieser Sanierungskosten könnten die Eigentümer auf die Mieter umlegen.
Bezahlbare andere Wohnungen gibt es kaum. Bis 2024 wird Spandau rund 6.000 Sozialwohnungen verlieren, auch im Falkenhagener Feld. Der Verlust kann durch Neubau nicht so schnell ausgeglichen werden.
Die Politik versucht schon seit Jahren, das Wohnquartier zu stabilisieren. Seit 2005 war das Falkenhagener Feld Teil eines Erneuerungsprozesses: Soziale und kulturelle Angebote wurden ausgebaut, Grünflächen attraktiver gemacht, ein "Quartiersmanagement" wurde aufgebaut, es gibt ein Netzwerk von Hilfsangeboten.
Jetzt aber, so warnen die Quartiersräte, spitze sich die Lage zu: "Das Klima im Quartier wird rauer und die Menschen sind zunehmend weniger in der Lage, den wachsenden psychischen Belastungen Stand zu halten", heißt es in dem offenen Brief. "Auch rassistische und antisemitische Äußerungen und Beleidigungen nehmen spürbar zu."
Bei der "Tafel" in der Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde wird die Bedürftigkeit sichtbar. Menschen mit leeren Einkaufstaschen und Taschen mit Rädern strömen am Freitagmittag in die Gemeinderäume, wo sie mit kostenlosen Lebensmitteln und anderen Dingen unterstützt werden. Es sind überwiegend Ältere, die hier warten. Deutsch, Russisch und Türkisch ist zu hören, auch Menschen aus Syrien und dem Irak sind da.
Christina kommt regelmäßig zur kostenlosen Ausgabe, seit fünf Jahren schon. "Aber seit dem Ukraine-Krieg sind die Preise so in die Höhe gegangen: Obst, Gemüse, Fleisch, Brot - noch nie war es so dramatisch wie jetzt", sagt sie. "Was ich hier bekomme, versuche ich so über die Woche zu strecken, dass es bis zum nächsten Freitag reicht."
Auch Filiz, eine junge Frau, deren Eltern in den 1990er Jahren aus dem Irak nach Deutschland flohen, hat sich angestellt. "Wir sind schon vor Corona zur Tafel gekommen", erzählt die junge Mutter, die gerade ihr viertes Kind erwartet. Ihr Mann arbeitet im Einzelhandel, sie selbst bekommt noch Leistungen vom Jobcenter, aber am Monatsende sei es finanziell eng, erzählt sie.
Bis zu 150 Menschen holen sich hier freitags kostenlose Waren ab. Früher waren es überwiegend Arbeitslose oder Rentner, inzwischen kommen aber auch Menschen, die zwar Arbeit, aber nur ein geringes Einkommen haben, heißt es von den Mitarbeitern der "Tafel".
"Die Menschen brauchen Antworten auf die aktuellen Krisen und Perspektiven für eine Zukunft ohne Angst vor Hunger, kalten Wohnungen oder dem Verlust ihres Zuhauses", mahnen die Unterzeichner des Offenen Briefs. Die Quartiersräte fordern "Instrumente zur gerechten Regulierung" der Mieten, zum Beispiel einen Mietendeckel. Eine energetische Sanierung von Wohnungen dürfe die Mieter nicht zusätzlich belasten, fordern sie. Die Entlastungsmaßnahmen für die Bürger bei Heizung und Strom müssten nachgebessert, die staatliche Grundsicherung müsse erhöht werden. Und auf die Preisgestaltung der Konzerne sollte die Politik Einfluss nehmen.
Viele dieser Forderungen richten sich an die Bundespolitik. Der Bezirk hingegen ist gefordert, wenn es um die bessere Kommunikation der zahlreichen Hilfsangebote für Bedürftige geht. "Viele wissen gar nicht, dass sie Anspruch auf Unterstützung haben, andere empfinden Scham und stellen keinen Antrag", erzählen uns die Quartiersräte. Deshalb müsse die aufsuchende Sozialarbeit verstärkt werden.
Die Wohnungsgesellschaften sollten ihre Belegungspraxis ändern, heißt es in dem Forderungskatalog: "Hier werden keine diversen Nachbarschaften gefördert, sondern bestimmte Problemlagen in einzelnen Häusern konzentriert."
Der Hilferuf der Quartiersräte ging unter anderem an die Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping. Die Politikerin der Linken hat inzwischen schriftlich reagiert: "Das Land Berlin hat ein Kündigungsmoratorium und einen Mietenstopp bei den städtischen Wohnungsunternehmen verfügt, weil es aufgrund der steigenden Energiekosten einfach notwendig ist, dass niemandem gekündigt wird, wenn er seine Energiekosten bzw. die Miete nicht mehr zahlen kann." Kipping verweist auch auf den Härtefallfonds bei Energieschulden. Ein direktes Treffen mit den Quartiersräten soll es aber auch geben.
Die Wohnungen im Falkenhagener Feld gehören zum Großteil städtischen Wohnungsbaugesellschaften wie Gewobag, Degewo und Berlinovo. Sie sind an die Vereinbarungen mit dem Senat zum Schutz der Mieter gebunden. Der private Wohnungskonzern Vonovia teilte rbb|24 auf Anfrage mit, dass die eigenen Bestände überwiegend in einem guten Zustand seien. Bei Modernisierungen würden Bestandsmieter geschützt.
Die Quartiersräte hoffen, dass die Politik reagiert. "Denn die Stimmung kippt langsam", sagt Quartiersrat Jörg Handrick. "Viele machen nämlich die Politiker für die Abwärtsspirale verantwortlich."
Sendung: rbb24 Inforadio, 17.01.2023, 07:00 Uhr
Beitrag von Wolf Siebert
Artikel im mobilen Angebot lesen