Gewaltausbrüche in der Unterbringung
Bei Gewalt zu Hause sollen Mädchen und Jungen Schutz im Kindernotdienst finden. Beschäftigte warnen allerdings, sie dort nicht immer vor Gewalt Älterer schützen zu können. Eine Gefährdungsanzeige liegt dem rbb exklusiv vor. Von Kirsten Buchmann
Ein Backsteingebäude in Berlin-Kreuzberg. Eine weiße Hand auf rotem Grund an der Außenmauer weist auf den Kindernotdienst hin. Bis zu zehn Null- bis 13-Jährige können hier unterkommen, wenn sie zu Hause akut gefährdet sind.
Immer wieder eskaliert laut Beschäftigen die Situation aber selbst im Kindernotdienst. Beschrieben ist das auch in einer Gefährdungsanzeige, die im Januar an die Senatsjugendverwaltung adressiert wurde und dem rbb vorliegt – eine Art Alarmsignal von Mitarbeiterseite.
Ein Betreuer versuchte demnach mit einem einjährigen Mädchen und einer Sechsjährigen, einen Turm zu bauen. Ein 13-Jähriger zielte mit Tritten auf den Kopf der Einjährigen, und als der Betreuer sie hochnahm, auf den Kopf der Sechsjährigen. Sie habe sich unter den Esstisch zurückzogen und geweint. Als sie nicht aufgehört habe zu weinen, habe der Junge den Küchentisch über den Kopf des Mädchens geworfen. "Die Sechsjährige lief erschrocken und weinend zu mir und versteckte sich hinter meinem Rücken, hinter mir mit der Einjährigen auf dem Arm."
Die Situation sei "exemplarisch für die Gefährdung, die seit ein paar Jahren permanent und zunehmend im Kindernotdienst besteht", steht in der Gefährdungsanzeige. Solche und ähnliche Situationen seien Alltag geworden.
Das bestätigte dem rbb ein Mitarbeiter, der seinen Namen nicht nennen will, weil er sich nicht öffentlich äußern darf. Der Kindernotdienst sei gesetzlich verpflichtet, die Kinder aus Gewaltsituationen bei den Eltern herauszuholen und in Sicherheit zu bringen. "Jetzt kommen die kleinen Kinder aus Gewaltsituationen in den Notdienst und erleben dort Gewalt, weil die Kinder, die dort lange sind, sich nicht mehr anders ausdrücken können."
Bereits vor einem Jahr warnten Kindernotdienst-Mitarbeiter, sie könnten aufgenommene Kinder nicht vor der gewaltvollen Atmosphäre schützen. Konkret schilderten sie, ein Junge habe mit der Hand eine Scheibe eingeschlagen, sodass ein Notarzt gerufen werden musste. Als dieser da gewesen sei, sei ein Mädchen zusammengebrochen, das nach eigener Auskunft Drogen genommen habe.
In einem zweiten Schreiben aus dem Dezember heißt es, 18 Kollegen und damit 60 Prozent der Beschäftigten seien wegen Krankheit oder Urlaub nicht arbeitsfähig.
Angesichts des komplexeren Unterstützungsbedarfs und längerem Aufenthalt der Kinder werde geprüft, ob mehr Personal nötig sei, lautete eine Reaktion aus der Jugendverwaltung des Senats.
Im vergangenen Jahr gab es im Kindernotdienst insgesamt 392 Inobhutnahmen von Kindern im Alter von null bis 13 Jahren. Die zehn Plätze waren der Jugendverwaltung zufolge im Schnitt mit acht Kindern besetzt.
Gedacht ist der Kindernotdienst für einen kurzen Aufenthalt von bis zu drei Tagen. Die Jugendverwaltung räumt ein: Im Schnitt bleibt ein Kind siebeneinhalb Tage. Einzelne sind Kindernotdienst-Beschäftigten zufolge sogar mehrere Monate oder ein halbes Jahr da. Denn in Jugendeinrichtungen finde sich für sie kein freier Platz. In der neuen Gefährdungsanzeige heißt es dazu: Kinder "erleben das als perspektivloses Zwischengeparktsein und von niemandem Gewolltsein."
Das beantworteten sie, je länger sie da seien, immer häufiger mit Gewalt gegen andere Kinder, gegen die Beschäftigten und sich selbst. Die Folge ist, so der Mitarbeiter, dass manche kündigen: "Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass jemand in meinem Dienst stirbt. - Das ist ein O-Ton von Kollegen, die den Kindernotdienst bereits verlassen haben."
Laut der Jugendverwaltung sind von 33,5 Stellen im Betreuungs- und Kriseninterventionsbereich des Kindernotdienstes eine Erzieher-, und zwei befristete Pflegestellen offen, außerdem eine Hauswirtschaftsstelle. Sie sollen ihr zufolge zeitnah nachbesetzt werden. Bei hohen Krankenständen übernähmen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter anderer Bereiche Dienste im Kindernotdienst. Weitere Unterstützung für ihn gebe es unter anderem durch den Drogennotdienst oder Konflikttraining.
Kindernotdienst-Mitarbeiter hoffen dringend, dass sich an ihrer Situation bald etwas ändert. Denn fehlen die Krankenschwestern, müssen andere Beschäftigte Kleinkinder wickeln oder aus der Psychiatrie entlassenen Großen Medikamente geben, die sie nicht einnehmen wollen. Auch das schildern Mitarbeitende. Hilferufe aus einer Einrichtung, die Kindern helfen soll.
Sendung: rbb24 Abendschau, 02.03.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Kirsten Buchmann
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