Kommentar | Shoah-Gedenktag
In Israel steht am Dienstag zwei Minuten lang das Leben still: um der sechs Millionen ermordeten europäischen Jüdinnen und Juden zu gedenken. Die Erinnerung am Shoah-Gedenktag sollte auch in Deutschland nicht in ritualisierten Reden erstarren. Von Maria Ossowski
Der Moment ist ergreifend. Die Sirenen heulen und ein ganzes Land steht still, um zu erinnern. Israel und die Geschichte der Shoah sind untrennbar miteinander verbunden. In Yad Vashem, der zentralen Gedenkstätte, warten am Ende der Ausstellung über den millionenfachen Mord an den europäischen Juden ein riesiges Fenster und eine Terrasse. Man tritt hinaus, und der Blick weitet sich auf: Erez Israel.
Dieser Staat war und ist nach jahrtausendelanger Verfolgung und der Shoah die Rettung für die Überlebenden und ihre Nachfahren. Die riesigen Demonstrationen, die Israel seit Monaten bewegen, sind Folgen dieser Geschichte. Hunderttausende Israelis wollen ihre Demokratie, ihren Rechtsstaat retten. Sie wissen, dass nur Israel ihnen trotz aller Konflikte mit den Palästinensern jene Sicherheit geben kann, die sie vor ihrer Verfolgung als Juden schützt.
Denn die gibt es nach wie vor, der Judenhass wächst überall. Während die Israelis für ihren Rechtsstaat kämpfen, durften hier in Berlin Demonstranten "Tod den Juden" brüllen, ohne dass die Polizei eingeschritten ist. Zwar sind die beiden Folgedemos nun verboten worden, aber deswegen verschwindet die Haltung der Demonstranten und deren Forderung nicht. Die Gleichzeitigkeit erschüttert: Israelis demonstrieren für ihre Demokratie und Demonstranten in Berlin fordern den Tod der Juden.
Es reicht nicht aus, in ritualisierten Gedenkreden hierzulande ein "Nie wieder" zu fordern, oder, besonders falsch, diese Floskel zu strapazieren: "In Deutschland hat Antisemitismus keinen Platz". Er ist da, er hat längst Platz genommen. Viel wichtiger sind diese Punkte: 1. Ein intensiverer Schulunterricht zur Shoah, zu ihren Gründen und ihren Schrecken. 2. Eine strengere Verfolgung antisemitischer Straftaten. 3. Eine offene Diskussion, wieviel verborgener und offener Antisemitismus schon in der Forderung steckt, Israel als Deutscher trotz des Holocausts kritisieren zu dürfen.
Es hängt alles zusammen. In Israel steht an diesem Tag zwei Minuten das Leben still. Vergessen wir niemals: Wenn wir in Deutschland für jede ermordete Jüdin, für jeden ermordeten Juden, für jedes erschlagene, vergaste oder erschossene jüdische Kind nur eine Minute schweigen müssten, wäre es elf Jahre still in unserem Land. Totenstill.
Sendung: rbb24 Inforadio, 18.04.2023, 7 Uhr
Beitrag von Maria Ossowski
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