Unterbindungsgewahrsam in Berlin
Der Unterbindungsgewahrsam soll Menschen davon abhalten, Straftaten zu begehen. Auch inspiriert von den Klima-Demonstranten möchte der Berliner Senat die Höchstdauer von zwei auf fünf Tage verlängern. Bundesweit gibt es große Unterschiede. Von Sebastian Schneider
Die Ermittler klingelten am Mittwochmorgen. Sie trugen Masken und Schutzwesten, durchsuchten vier Wohnungen in Berlin, zwölf in sechs anderen Bundesländern. Die Razzien richteten sich gegen Mitglieder der "Letzten Generation", die für mehr Klimaschutz demonstrieren. Der Vorwurf: Sie sollen eine kriminelle Vereinigung gebildet und unterstützt haben.
Ein kleinerer Kreis von Unterstützern, viele davon Wiederholungstäter, klebt sich gerade fast jeden Tag auf Straßen fest, um den Verkehr zu blockieren, alleine am Dienstag hatte die Berliner Polizei mit 30 Tatverdächtigen zu tun. Den Rechtsstaat beschäftigt das auf mehreren Ebenen: Geldstrafen, Polizeigewahrsam, eingefrorene Konten, die Homepage der "Letzten Generation" offline genommen. Bisher hat kein Mittel die Verkehrsblockaden verhindert. Eine immer häufiger diskutierte Rolle spielt dabei auch der sogenannte Unterbindungsgewahrsam, umgangssprachlich auch Präventivhaft genannt - und der ist ein ganz besonderes Werkzeug.
Anders als bei einer Freiheitsstrafe werden Beschuldigte hier ohne Anklage, Gerichtsverhandlung und Urteil eingesperrt - nicht nachdem, sondern direkt bevor eine mögliche Straftat passiert. Der Begriff Präventivhaft ist dabei nicht ganz zutreffend: Denn in Haft sitzen entweder verurteilte Straftäter oder dringend tatverdächtige Beschuldigte. Die Polizei beantragt den Gewahrsam bei einem Richter oder einer Richterin - und die müssen darüber entscheiden, wie wahrscheinlich es ist, dass der Mensch vor ihnen bis zum Ende des nächsten Tages eine Tat begeht.
Unterbindungsgewahrsam gibt es in den Polizeigesetzen aller Bundesländer. Meist bewegt sich der zeitliche Rahmen zwischen vier und 14 Tagen. In Bayern sind es bis zu zwei Monaten, in Berlin maximal 48 Stunden. Der neue Senat aus CDU und SPD möchte die Dauer nun verlängern. "Wir werden als Koalition die rechtlichen Voraussetzungen für einen bis zu fünftägigen Präventivgewahrsam schaffen", sagte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) kürzlich dem "Tagesspiegel". So steht es auch im Koalitionsvertrag [spd.berlin / S.26].
Ursprünglich wurde der Unterbindungsgewahrsam eingeführt, um schnell auf drohende terroristische Gefahren reagieren zu können. Vor allem die Bedrohung durch islamistischen Terrorismus hat den Gewahrsam in den letzten Jahren an Bedeutung gewinnen lassen. Die Höchstdauer wurde in mehreren Bundesländern verlängert, um Gefährder von Anschlägen abhalten zu können. Auch bei polizeibekannten Hooligans wird das Mittel angewandt, sie werden zum Beispiel vor sogenannten Hochrisikospielen eingesperrt. Möglich ist ein Gewahrsam auch, um schwere Fälle von Stalking und häuslicher Gewalt zu verhindern oder Menschen daran zu hindern, sich selbst zu gefährden.
In Berlin galt bis 2021 eine Höchstdauer von vier Tagen - bis der rot-grün-rote Senat sie ohne genauere Begründung auf 48 Stunden herabsetzte. Meist sind es weniger: Denn Betroffene müssen spätestens bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen freigelassen werden. Damit hat Berlin den kürzesten Zeitraum aller Bundesländer. Ihn jetzt auf fünf Tage zu erhöhen, wie CDU und SPD es planen, wäre kein großer Unterschied zu früheren Zeiten. Die Pläne zu der Verlängerung hat die CDU bereits seit dem vergangenen Jahr, auch die SPD-Innensenatorin Iris Spranger, die Polizeipräsidentin Barbara Slowik und die Gewerkschaft der Polizei hatten sich dafür ausgesprochen.
"Im Austausch mit den Richtern haben wir festgestellt, dass ein längerer Weg, also bis zu fünf Tage, dann auch die Möglichkeit schafft, zum Beispiel mal jemand übers Wochenende da zu halten und dann Folgetaten zu verhindern. Das ist in anderen Bundesländern gang und gäbe", sagt der GdP-Landessprecher Benjamin Jendro.
Die Idee: Kündigt die "Letzte Generation" wieder für die gesamte nächste Woche Blockaden im Berufsverkehr an, könnte man Beschuldigte zum Beispiel von Montag bis Freitag in der Zelle behalten. Auch von Quellen aus der Berliner Justiz heißt es: 48 Stunden Maximaldauer seien eng bemessen und funktionierten bei diesem Tätermodell nicht. Die GdP fordert dabei bundesweit einheitliche Regeln, um sogenannten Versammlungstourismus zu vermeiden. Die sind aber nicht zu erwarten. Jede Landesregierung hat ihre eigenen Maßstäbe.
Die in Gewahrsam genommenen Beschuldigten dürfen nicht mit Strafgefangenen untergebracht werden. Deshalb sitzen sie in Berlin auch nicht in einer JVA, sondern in einer von drei Gefangenensammelstellen der Polizei, kurz "Gesa", die bekannteste von ihnen liegt am Tempelhofer Damm. Insgesamt 120 bis 130 Zellen stehen der Polizei zur Verfügung. Die vierte Gesa kann momentan allerdings gar nicht betrieben werden, weil das Personal fehlt. "Ich denke aber, dass die Kapazitäten auch bei einer Verlängerung auf fünf Tage vorerst genügen. Bei den vier Tagen, die bis 2021 gegolten haben, war das auch ausreichend", sagt Jendro.
Dass der Unterbindungsgewahrsam eine Sonderstellung hat, legt auch eine Anfrage bei den Berliner Behörden nahe: Wie oft wurde er in den vergangenen Jahren eigentlich von der Polizei beantragt und von Richterinnen und Richtern angeordnet? Die Polizei verweist an die Staatsanwaltschaft, die wiederum an die Strafgerichte. Auch dort hält man sich nicht für zuständig und zeigt auf die Justizverwaltung. Die das Ganze wiederum an die Strafgerichte zurück spielt und noch die Senatsverwaltung für Inneres empfiehlt. Letztere bittet dann erstmal um mehr Zeit.
Fest steht: Gerichte beurteilten die Blockaden in mehreren Fällen als gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr und Nötigung. Ob diese Tatbestände ausreichen, um mehrere Tage Präventivgewahrsam zu verhängen, ist aber umstritten - und, ob er zukünftige Taten effektiv verhindert. Anders als bei Strafverfahren gibt es beim Unterbindungsgewahrsam keine Hauptverhandlung, nur eine Anhörung. Es gibt auch keinen genau bestimmten Katalog von Tatvorwürfen, bei denen ein Pflichtverteidiger bestellt wird. Die Polizei muss deshalb nachweisen, dass die Wiederholungsgefahr so groß ist, dass kein anderes Mittel in Betracht kommt.
Das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben den Gewahrsam als zulässiges Mittel der Gefahrenabwehr anerkannt. Problematisch ist es allerdings, wenn die Dauer sich der einer normalen Haftstrafe annähert. "Das Bundesverfassungsgericht sagt, je länger ein solcher Gewahrsam dauert, desto wahrscheinlicher ist, dass er gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Wenn man das auf einen längeren Zeitraum erstreckt, sind immer auch mildere Maßnahmen möglich, beispielsweise eine Observation, die Auflage, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einer Polizeiwache zu melden, zur Not sogar die elektronische Fußfessel", sagt Uwe Volkmann, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Weil der Freiheitsentzug so ein schwerer Grundrechtseingriff sei, müsse es immer um die Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Straftat gehen. "Wenn man wie in Bayern 30 bis 60 Tage verhängen kann, hat man nicht mehr die Voraussetzung, für die der Gewahrsam zulässig ist: den konkreten und identifizierbaren Anlass", sagt Volkmann. "Irgendwann demnächst mal auf der Straße festkleben" werde als Begründung nicht reichen.
Der Bayerische Verfassungsgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht beschäftigen sich gerade mit mehreren Klagen gegen das Polizeigesetz im Freistaat. Dort saß in den vergangenen drei Monaten kein Klimademonstrant mehr in Unterbindungsgewahrsam. Die Zahl der Aktionen ging aber tatsächlich zurück. Mehrere Rechtsexperten bezweifeln im Gespräch mit rbb|24 allerdings, dass der Gewahrsam in der Länge Bestand haben wird.
Die Münchner Strafverteidigerin Sümeyra Öz hat bereits mehrere Mandanten vertreten, die in Präventivgewahrsam genommen wurden. Sie sieht ihn ihren Worten zufolge kritisch - auch aus Personalgründen. "Ich finde, man gibt damit der Exekutive ein so scharfes Schwert an die Hand, dass in der Folge die eh schon überlastete Justiz davon überfordert ist. Deutschlandweit sind 1.000 Richterstellen unbesetzt", sagt Öz.
"Wo zieht man die Grenzen, wann wendet man das an? Nur für die sogenannten 'Klima-Kleber'? Es gab diese Frage auch bei Leuten, die gegen die Corona-Schutzmaßnahmen demonstriert haben. Ich halte diesen Grundrechtseingriff für so schwerwiegend, dass man den nicht einfach der Exekutive überlassen darf, in dem Fall der Polizei. Denn auch wenn ein Richter entscheidet: Ich glaube nicht, dass ein Richter sich oft über den Antrag der Polizei und den darin genannten Argumenten hinwegsetzen wird", sagt die Rechtsanwältin.
Um Täter schnell zu bestrafen und dadurch abzuschrecken, seien sogenannte beschleunigte Verfahren die bessere Wahl. Das Problem: Auch hierfür fehlen Richterinnen und Richter.
Der Vorsitzende des Berliner Richterbundes, Stefan Schifferdecker nennt ein seiner Ansicht nach weiteres Argument gegen solche Schnellverfahren: Die Aktionen der Klima-Demonstranten befänden sich in einer Grauzone zwischen Versammlungsfreiheit und Straftat. "Zum rechtsstaatlichen Verfahren gehört eben auch, dass Stellungnahmefristen abgewartet werden, dass Anhörungsrechte gewahrt werden, Anwälte Akteneinsicht nehmen können, dass Termine mit ihnen abgestimmt werden. Darum ist ein Schnellverfahren - jetzt und gleich und ab in den Knast - einfach nicht möglich", sagt er.
Stattdessen rückt der Unterbindungsgewahrsam als eine Möglichkeit in den Fokus - mit einigen Schwierigkeiten, wie Schifferdecker erklärt. "Richterinnen und Richter müssen nach dem geltenden Gesetz abschätzen, ob sich ein Beschuldigter bis zum Ende des nächsten Tages wieder ankleben wird. Ergibt die Prognose, dass das nicht der Fall sein wird, etwa weil der Beschuldigte den Richter überzeugt, morgen keine Straftat zu begehen - dann kommt ein Gewahrsam nicht in Betracht", sagt Schifferdecker.
Interessant ist dabei der Unterschied: Ob jemand Wiederholungstäter ist, spielt erst später bei der strafrechtlichen Beurteilung eine Rolle - also vor Gericht, wenn die Zahl und Schwere der Straftaten beurteilt werden. Bei der Frage des Unterbindungsgewahrsams gilt man nur dann als Wiederholungstäter, wenn man vor dem Richter oder der Richterin beteuert, sich morgen nicht wieder auf die Straße zu kleben, und es dann doch tut. Nach Ablauf der rechtlich möglichen höchstens 48 Stunden Gewahrsam wird die Uhr quasi wieder zurückgestellt. Klebt man sich dann alle drei oder vier Tage fest, hat man den Richter oder die Richterin ja nicht angelogen - und das fließt dann nicht in die Frage des Gewahrsams ein.
Rechtlich seien die Klima-Demonstranten, die sich ankleben, meistens hervorragend beraten, heißt es aus der Berliner Justiz. Und: Bisher seien die Beschuldigten gegenüber den Richtern in diesem Punkt ehrlich gewesen. Sie hätten sich am nächsten Tag tatsächlich nicht auf den Asphalt geklebt - aber danach wieder.
Sendung: rbb24 Abendschau, 24.05.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Sebastian Schneider
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