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Quelle: dpa/M. Kula

Türkische Community vor den Türkei-Wahlen

So viel Erdogan steckt in Berlin

Für die einen ist er ein starker Leader - für die anderen ein Machthaber, der seine Gegner einsperren lässt. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan muss in der Türkei um seine Wiederwahl bangen - entsprechend nervös ist die türkische Community in Berlin. Von Hasan Gökkaya

Mehr als 2.000 Kilometer liegen zwischen Berlin-Kreuzberg und Istanbul. Dennoch reicht der Flair der türkischen Millionenmetropole an diesem Dienstag bis zum Maybachufer, wo auf dem Wochenmarkt viele türkeistämmige Obst-, Gemüse- und Fleischverkäufer sind. "Süße Äpfel, süße Äpfel!", ruft ein Mann in die Menge, ihm gegenüber verarbeitet eine Frau einen Haufen Granatäpfel und Orangen zu frischen Säften. Business as usual - doch nur bis der Name "Erdogan" fällt.

Schnell beginnen Diskussionen unter den Verkäufern. "Er ruiniert die Wirtschaft, er muss weg", sagt einer auf Türkisch. Der Mann am Nachbarstand kontert: "Dank ihm hat die Türkei jetzt einen eigenen Flugzeugträger!"

In gut zehn Tagen finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Nicht nur die Türken sind hochgespannt auf den Ausgang der Wahlen, sondern auch die türkische Community in Berlin, die größer als in jeder anderen deutschen Stadt sein dürfte. Allein in Berlin leben 200.000 Menschen mit türkischen Wurzeln - die Hälfte davon besitzt sogar die türkische Staatsbürgerschaft und kann wählen. Die Wahlen sind dieses Mal besonders spannend, weil sich dem amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ein starkes Oppostionsbündnis entgegenstellt - Erdogan muss um seine Wiederwahl bangen.

Forscher: Interesse für Türkei-Wahlen "ist absolut kein Zeichen schlechter Integration"

Eine Tatsache, die ein grauhaariger Verkäufer, der sich vor das rbb-Team stellt, nicht nachvollziehen kann: "Erdogan hat Straßen bauen lassen. In türkischen Krankenhäusern gibt es keine Warteschlangen mehr. Was wollen die Leute denn noch?", sagt er leicht aufgeregt.

Es ist nicht das erste Mal, dass im Vorfeld der Türkei-Wahlen die Community gespalten wirkt. Bereits 2018 beschäftigten die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen die Deutschtürken in der Hauptstadt. Ob beim Abendessen oder beim Plausch mit Spätibetreibern: Es dauerte nicht lange, bis unpolitische Unterhaltungen politisch wurden, bis aus Gesprächen über Fußball ein Streit über Erdogan wurde.

Kein Wahlkampf in Deutschland

Türkischer Präsident Erdogan plant keinen Besuch in Berlin

In der Türkei wird im Mai gewählt. Wahlkampfauftritte in Deutschland führten zuletzt zu Spannungen. Dieses Mal ist das nicht zu erwarten. Zehntausende Berliner können den Wahlausgang aber mitentscheiden. Von Hasan Gökkaya

Dass die Türkei-Wahlen derart viele Deutschtürken mitreißen und durchaus auch viele Menschen hinter Erdogan stehen, führte in der Vergangenheit zu Diskussionen, die eigentlich schon in den Schubladen verschwunden waren. Integrationsdebatten wurde neu aufgerollt und es wurde die Frage gestellt, ob die deutschtürkische Community in Deutschland gut integriert sei.

Der Integrationsforscher Özgür Özvatan von der Humboldt-Universität zu Berlin erinnert sich noch gut an die hitzigen Debatten von damals. Dass sich viele Deutschtürken für die Wahlen in der Türkei interessieren, hält er nicht für ein Zeichen mangelnder Integration. "Das ist absolut kein schlechtes Zeichen, dass sich die Menschen auch der Türkei zugehörig fühlen und politisch mitbestimmen möchten. Wir wissen aus Studien, dass Zugehörigkeit nicht nur bedeutet, dass ich mich nur zu einem Land zugehörig fühle und zu dem anderen nicht", sagt er.

Erdogan holt Auslandstürken in ihren Diskriminierungserfahrungen ab

Özvatan betont, dass es Deutschtürken gebe, die vollkommen überzeugt von Erdogans Haltung und seiner Politik seien und ihn deshalb wählen würden. Doch er weist auch noch auf einen anderen Faktor hin. "Der andere Punkt ist natürlich, dass Erdogan schon seit einem Jahrzehnt versucht, Deutschtürken in ihren Rassismuserfahrungen in Deutschland emotional zu adressieren. Er reist in den Westen und erklärt, dass er die Menschen vor Assimilationsdruck schützen wird." Erdogan wolle sie die Auslandstürken in ihren Diskriminierungserfahrungen, die es auch tatsächlich gebe, abholen, sagt Özvatan.

Es gibt nicht viele Zahlen, die konkret zeigen, wie die deutschtürkische Community politisch tickt - auch weil es den im Ausland lebenden Türken lange nicht möglich war, an Türkei-Wahlen aus der Ferne teilzunehmen. Eine Zahl stach in der Vergangenheit aber besonders hervor und machte Schlagzeilen: 65.

Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2018 in der Türkei gaben nämlich Hundertausende Deutschtürken ihre Stimmen in den örtlichen türkischen Konsulaten in Deutschland ab. Das Ergebnis: 65 Prozent stimmten für Erdogan als Staatspräsidenten. Da Erdogan wegen seiner umstrittenen Politik kein gutes Image in Deutschland genießt, war die Überraschung hierzulande groß. Integrationsforscher wie Özvatan empfinden die Angabe aber als "irreführend". Sie suggeriere eine falsche Menge. Tatsächlich hilft es, die Zahlen ins Verhältnis zu setzen.

Interview | Erk Acarer

"Das war ein organisierter Angriff gegen mich"

Der im Berliner Exil lebende türkische Journalist Erk Acarer ist von unbekannten Männern angegriffen und verletzt worden. Er glaubt: Der Befehl kam aus Ankara. Im Interview fordert Acarer die Bundesregierung zu einem entschlossenen Handeln auf.

Viele Erdogan-Fans in Berlin - aber keine Hochburg

In Deutschland leben 2,8 Millionen Türkeistämmige - also Menschen mit türksichen Wurzeln. Nur 1,4 Millionen Menschen besitzen aber die türkische Staatsbürgerschaft - die Angabe 65 Prozent bezieht sich also nur auf diese 1,4 Millionen Menschen. Hinzukommt, dass die Wahlbeteiligung 2018 bei nur 46 Prozent lag. Was wir somit wissen: 2018 wählten etwa 420.000 von insgesamt rund drei Millionen Türkeistämmigen Erdogan - wie die Nichtwähler gewählt hätten, also diejenigen die Zuhause blieben oder gar nicht wählen können, weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, ist unklar.

In Berlin stimmten damals 52 Prozent für Erdogan, der Rest wählte oppositionelle Gegenkandidaten. Es steckt also viel Erdogan in Berlin - von einer "Erdogan-Hochburg" kann aber nicht die Rede sein.

Özvatan betont zudem, dass es nicht möglich sei, zu sagen, ob Deutschtürken mit deutscher Staatsbürgerschaft, wenn sie denn könnten, eher gegen Erdogan stimmen würden - vielleicht etwa, weil sie sich der Türkei weniger verbunden fühlten. "Zum einen wissen wir das nicht, weil es keine Befragungen dazu gibt. Zum anderen hängt die Wahlentscheidung in der Türkei maßgeblich davon ab, aus welcher türkischen Provinz, also aus welchem Landesteil die Wähler stammen. Dieser Faktor wird bisher weder in der wissenschaftlichen noch in der öffentlichen Berichterstattung gänzlich berücksichtigt."

Wer in Berlin lebt und die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, kann jedenfalls bereits seine Stimme bis zum 9. Mai abgeben. Das Türkische Generalkonsulat an der Heerstraße 21 (Charlottenburg-Wilmersdorf) dient dafür als Wahllokal.

Kann Erdogans Rhetorik ein Türöffner für Gewalt sein? "Das ist zweifellos so"

Dass aber die Wahlen in der Türkei zu mehr als nur hitzigen Diskussionen führen können, zeigte sich zuletzt am Beispiel des regierungskritischen Journalisten Erk Acarer. Der Türke wurde 2021 von unbekannten Männern vor seiner Berliner Wohnung attackiert, der Angriff machte in Deutschland Schlagzeilen.

Dabei war Acarer vor Jahren ins Berliner Exil geflüchtet, weil er sich in der Türkei nicht mehr sicher fühlte. "Ein Nachbar öffnete die Tür vom Wohnhaus. Zwei Leute kamen hinterher, meine Frau und ich saßen im Garten, die zwei Kerle hatte ich vorher noch nie gesehen. Dann ging alles ganz schnell: Sie schlugen mich und verschwanden wieder. Ich hatte so einen Angriff wegen meines Berufs nie ausgeschlossen, aber nach diesem Vorfall waren wir noch sehr lange beunruhigt", sagt Acarer in einem exklusiven Gespräch mit rbb|24.

Acarer betont, dass er wegen seiner kritischen Berichte über die türkische Regierung von einem organisierten Angriff ausgehe, das Ziel sei gewesen, ihn mundtot zu machen. Die Täter, die auch Türkisch gesprochen haben sollen, wurde bis heute nicht gefasst.

Der türkische Präsident Erdogan ist bekannt für seine harte Rhetorik auf der Bühne - hin und wieder kommt es in der Türkei zu Auseinandersetzungen zwischen Erdogan-Fans und Anhängern der Opposition. Auf die Frage, ob die Rhetorik des Präsidenten ein Türöffner für Gewalt unter Erdogans Anhängerschaft sein könne, hat Acarer eine klare Antwort: "Das ist zweifellos so."

Auf Youtube: Wahlen in der Türkei: Holt Erdogan in Berlin wieder die meisten Stimmen?

Sendung: Abendschau, 27.04.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Hasan Gökkaya

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