Parteitag der Berliner Grünen
Relativ geschlossen bringen die Grünen den ersten Parteitag in der Opposition hinter sich. Die Debatte über eigene Fehler und die richtige Zukunftsstrategie beginnt aber jetzt erst richtig. Von Sabine Müller
Um kurz nach halb zwei wird es kurz laut im Parteitagssaal. Aus den Reihen der Delegierten kommen Buhrufe, die Rednerin am Pult reagiert empört: Ausbuhen sei "nicht Kommunizieren – und nicht wertschätzend".
Der Grund für die Buhrufe: Yasemin Derviscemallioglu, Delegierte des Kreisverbands Mitte, hat gerade die Straßenblockaden der Klimaaktivisten der "Letzten Generation" kritisiert. Es sei "Nötigung, bei einer illegalen Demonstration auf dem Boden zu sitzen und sich festzukleben", hier gehe es um „passive Gewalt“.
Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Vasili Franco, hält eine leidenschaftliche Gegenrede, nennt die "Kriminalisierung" der Gruppe ein "Ablenkungsmanöver, um Untätigkeit beim Klimaschutz zu kaschieren".
Nachdem zuletzt viel über das komplizierte Verhältnis der Grünen zur "Letzten Generation" geredet wurde, sendet der Parteitag ein Signal der Solidarität. Jahrelange Klimaproteste von "Fridays for Future" und anderen hätten nicht zu entschlossenem Handeln der Bundesregierung geführt. "Deswegen ist es verständlich, dass die Letzte Generation mit zivilem Ungehorsam Aufmerksamkeit für den Klimaschutz generiert", heißt es im Beschluss, der den Klimaaktivisten "Verzweiflung und Ohnmacht" bescheinigt.
Der Schlagabtausch zum Umgang mit der "Letzten Generation" ist die hitzigste Situation des Parteitags. Insgesamt präsentieren sich die Grünen erstaunlich geschlossen für eine Partei, die nach sechseinhalb Jahren aus der Regierung in die Opposition wechseln musste. "Wenn das gerade unser größter Streitpunkt ist, kann ich damit gut leben", sagt eine Spitzengrüne.
Die Ablehnung der neuen Regierungskoalition schweißt zusammen. Die Parteivorsitzenden Susanne Mertens und Philmon Ghirmai, deren Reden die Delegierten nicht mitreißen, erhalten den meisten Applaus, als sie CDU und SPD scharf angreifen. Mertens fordert mehr Engagement der beiden Parteien beim Klimaschutz, sie würden so tun, als könne alles so bleiben, wie es sei. "Es ist verantwortungslos, den Menschen Sand in die Augen zu streuen, und es ist gefährlich", kritisiert sie.
Ihr-Co-Chef Ghirmai wirft Schwarz-Rot vor, grüne Errungenschaften zurückdrehen zu wollen und fordert, Klimaschutz und Nachhaltigkeit müssten in allen Lebensbereichen eine größere Rolle spielen: von der Wirtschaft über die Schule bis zu Kultur und Sport. "Erst wenn man Klimaschutz als Querschnittsaufgabe anerkennt, werden wir vorankommen", so Ghirmai.
Susanne Mertens sieht die grünen Vorschläge als "Messlatte" für die schwarz-rote Koalition, die Partei will zeigen, wie es besser gehen kann. Mit dem Ziel, dass bei der nächsten Regierungsbildung niemand an den Grünen vorbeikommt.
Beim Blick auf mögliche Regierungspartner wird allerdings Ernüchterung deutlich. Co-Parteichef Philmon Ghirmai geißelt die SPD als Steigbügelhalter für eine CDU, die das "Auto zu ihrem Götzen" erklärt habe. Das entkerne die Sozialdemokraten, gerade weil die Klimakrise auch eine soziale Krise sei. "Shame on you, liebe SPD!", ruft Ghirmai in Richtung der früheren Koalitionspartnerin. Immerhin, er sagt: "liebe SPD".
Fraktionschefin Bettina Jarasch zieht eine wichtige Lehre aus den Monaten seit der Wahl: Die Grünen könnten sich "nicht mehr allein auf SPD verlassen", dürften nicht mehr auf eine einzige Machtoption setzen.
Aber was heißt es konkret, sich die Option einer Koalition mit der CDU offen zu halten? "Soll die Schlussfolgerung aus dieser Wahl sein, dass wir in die Mitte rücken und uns auf ein Bündnis mit der CDU vorbereiten?", fragt die Delegierte Sonja Gerth aus Friedrichshain-Kreuzberg in den Saal. Zurück kommen auch ein paar "Ja"-Rufe, aber für das "Auf keinen Fall!" von Gerth gibt es großen Applaus. Gelächter, ein leichter Moment. Aber dahinter steht die ernste Grundsatzfrage, wie sich die Grünen im Parteienspektrum aufstellen wollen. Diese Debatte ist noch längst nicht beendet, sie fängt gerade erst richtig an.
Die große Aufarbeitung des Wahlkampfs und des Wahlergebnisses vom 12. Februar soll auf einem Sonderparteitag Mitte des Monats stattfinden. Aber an diesem Samstag bekommt die Parteiführung schonmal einen Vorgeschmack, was sie dort erwartet.
Nachdem die Landesvorsitzende Susanne Mertens kritisch angemerkt hat, den Grünen sei es nicht immer gelungen, die Menschen auf dem Weg der Veränderung mitzunehmen, die Partei habe "nicht gut genug zugehört", fallen deutliche Worte.
Philipp Freisleben aus dem Spandauer Kreisvorstand übt scharfe Kritik an der Kommunikation der Partei. Im Wahlkampf sei mehr darüber geredet worden, das Auto zurückzudrängen, als darüber, Alternativen zu schaffen. "Wir machen es unseren Konkurrenten viel zu leicht, uns als ideologiegetrieben und radikal dazustellen", glaubt Freisleben. Grüne Ideen müssten klarer kommuniziert werden – "außerhalb der grünen Blase versteht niemand diese Lösungen" – und außerdem in der ganzen Stadt funktionieren, nicht nur innerhalb des S-Bahn-Rings.
Landesvorstandsmitglied Dara Kossok-Spieß, ebenfalls aus Spandau, fordert, die großen Innenstadtverbände der Grünen müssten auch die Perspektiven des Stadtrands sehen: "Wir brauchen einen Austausch zu unterschiedlichen Lebensrealitäten. So wenig wie innerhalb des Rings alle Fahrrad fahren, fahren bei uns alle SUV."
Fraktionschefin Bettina Jarasch versichert, es werden gerade beim Thema Klima für unterschiedliche Bezirke auch unterschiedliche Antworten geben. Klimaschutzmaßnahmen müssen ihrer Ansicht nach "realistisch und umsetzbar" sein. Die Ex-Spitzenkandidatin klingt inzwischen deutlich pragmatischer als im Wahlkampf.
Der frühere Finanzsenator Daniel Wesener, der wie die anderen Ex-Regierungsmitglieder nochmal mit viel Applaus bedacht wird, gibt seiner Partei eine Warnung mit auf den Oppositions-Weg. Sie dürfe es sich in der neuen Rolle nicht zu einfach machen. "Gerade in der Opposition ist es leicht, die Wolkenkuckucksheime, die politischen Placebos, die reinen Ankündigungen einer Regierung mit eigenen Maximalforderungen nochmal links und rechts gleichzeitig zu überholen", so Wesener. Wenn man diese Erwartungen aber nicht erfüllen könne, sobald man selbst wieder in Regierungsverantwortung sei, sorge das für Enttäuschung und Politikverdrossenheit.
Sendung: rbb24 Abendschau, 3.6.23, 19:30 Uhr
Beitrag von Sabine Müller
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