Roland Köhnke - als Lehrling bei den Protesten 1953
Aufstand, Streik und Protest - der 17. Juni 1953 war eine Erhebung aus den Betrieben der DDR. Roland Köhnke war Lehrling in Hennigsdorf und marschierte an der Seite hunderter Stahlwerker nach Berlin. Euphorisch war er zumindest am Anfang. Von Stefan Ruwoldt
Hennigsdorf und Berlin-Mitte trennen etwa 30 Kilometer Asphalt und die Havel. Im Juni 1953 machten sich hunderte Hennigsdorfer auf den Weg. Zu Fuß. Roland Köhnke war einer von ihnen. Er lief an der Seite von Männern und Frauen des Stahlwerks. Es war ein Marsch, für den die Arbeiter an diesem Morgen Kraft hatten. Sie waren unzufrieden und wollten etwas ändern. Sie zogen los und wurden unterwegs immer mehr. Auf ihrem Weg zurück aber wurden sie von der Polizei erwartet. Roland Köhnke hatte Glück und kam durch. Viele andere nicht.
"Ich war jung damals, einer der jüngsten, und ich bin heute einer der ältesten, aber eben einer, der noch dabei war." Am 17. Juni 1953 war Köhnke 15 und Lehrling im Stahlwerk. An diesem Tag war alles anders, sagt er. Am Tor, vor dem Werk und an den Hallen sammelten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter. "'Geht doch kucken', hat der Berufsschullehrer nur gesagt", erzählt Köhnke. Und, sie - zehn Lehrlinge - gingen. Die Berufsschule war damit an diesem Tag für Köhnke beendet. Er reihte sich ein in die Gruppe, die am Werkstor immer größer wurde.
Jetzt, 70 Jahre später, ist Köhnke auf der Suche nach Spuren. "Das war die große Kneipe", er zeigt auf eine Halle am Rande des Werksgeländes. "Zu!" Auch das große alte Werkstor und die meisten Hallen sind weg, stellt er nüchtern fest. "Viel ist nicht mehr da." Köhnke sucht nach Anhaltspunkten, die noch etwas verraten könnten und vielleicht an die Zeit erinnern, als sie sich damals aufgemacht hatten nach Berlin.
Woher der Aufruf damals kam, oder der Impuls, die Idee, dass sie an diesem Morgen losgingen, weiß Roland Köhnke nicht. "Es ging um das, was wir in den Schichten schaffen sollten, das war alles, was wir wussten", sagt Köhnke. "Darüber wurde gesprochen. Andauernd und viel!" fügt er noch hinzu. "Zu hoch waren die Normen." Neuwahlen, Wiedervereinigung, die Absetzung von Ulbricht - all das zählen die Geschichtsbücher auf als Forderungen der Arbeiteraufstände in Berlin und in der ganzen DDR rund um den 17. Juni 1953. "Die neuen Normen", sagt Roland Köhnke, "das war der Auslöser".
Im Juni 2023 nimmt er noch einmal die Route ihres Protestzuges, diesmal aber mit dem Auto, runter von der Veltener Straße über die Havelbrücke auf die Straße in Richtung Heiligensee. Nach kaum zwei Kilometern erreichte damals der Protestzug die Stadtgrenze nach Berlin, die französische Besatzungszone. Hier ging es in den Westteil der Stadt. "Ein Zaun. Mehr nicht", sagt Köhnke. An Kontrollen oder Posten kann er sich nicht erinnern. "Wir waren weit vorn, fünfte, sechste, siebente Reihe."
Die nächsten Kilometer führten entlang der S-Bahn durch den Tegeler Forst, dann vorbei an Alt-Tegel, entlang der Borsigwerke, wie er erzählt. "Am Haupttor zu den Werken in Tegel, da standen Arbeiter, ja. Aber, nee, von denen kam keiner mit. Das war damals schon geteilt", sagt er. "Die kuckten, grüßten, winkten. Wir zogen weiter."
Wenige Kilometer auf der Müllerstraße dann wurden bereits Extrablätter einer Zeitung verteilt: "Die hatten Fotos in Tegel gemacht - von unserem Zug - und gleich alles gedruckt." Mit der Zeitung und der Gewissheit, dass ihr Zug die Nachrichten bereits erreicht hatte, zogen sie weiter.
Bei einer kleinen Pause in einem Cafe an der Afrikanischen Straße nun erzählt Köhnke von den Monaten nach der Wende, von seinen Jobsorgen, von der Suche nach einer Lehre für seinen Sohn damals, von den Sorgen seiner Frau. Und er erzählt von seinen aktuellen, gesundheitlichen Problemen: "Aber die kamen erst jetzt", erklärt er, also vor wenigen Jahren. Köhnke ist darauf stolz, dass er das meistert, wie er sagt. Dann sagt er: "Weiter!" Und steht auf.
Von den nächsten Kilometern ihres damaligen Marsches durch Reinickendorf hat Köhnke kaum Erinnerungen. In Mitte dann, auf der Chausseestraße sagt er: "Hier aber, hier gab es auch Industriebetriebe, da kam Unterstützung, Rufe und Grüße."
"An der Kochstraße dann war eigentlich Schluss", sagt Köhnke. "Was hier aber jetzt los ist", stellt er fest und blickt auf die Touristen. Er staunt und erzählt erstmal nicht weiter von damals. Die Leute auf dem Platz drängeln sich zwischen die Autos. Es wird gehupt. Radfahrer steigen ab.
Mit dem Kopf nickt Köhnke ein bisschen nach vorn, zeigt auf ein Paar, das sich zwischen den Stoßstangen über den Platz drängelt. Dann spricht er weiter, als hätte das Paar ihn an damals erinnert: "Hier die Russen mit Papirossi - da die Kaugummi kauenden Amerikaner", sagt er und stößt mit den Kinn so ein bisschen vor, als seien sie jetzt noch zu sehen irgendwo da hinter dem Paar. "Ein Reporter auf einer Ladefläche mit Kamera hat uns gefilmt. Aber dann mit den Panzern ... Da waren auch die Reporter ganz schnell verschwunden." Köhnke nickt mit dem Kopf schräg nach vorn: weiter.
Der Rest dieses Protesttages damals, sagt Köhnke, war dann fast so ein bisschen enttäuschend. Aus einem Haus flogen Akten aus dem Fenster, sagt er: "Stühle, Schreibmaschinen - sinnlos. Ich hab's nicht verstanden." Er und seine Freunde liefen weiter zum Potsdamer Platz: "Trümmerberge, das Haus Vaterland brannte."
Panzer, Trümmer, Brände - man kann Köhnke heute noch anhören, wie enttäuscht er über den Abschluss ihres Protestzugs war. Es war eine Art Rückzug von einer Frontlinie, wo jetzt Panzer rollten und aus Möbeln Barrikaden errichtet wurden.
Auf diesem Rückzug wieder hoch nach Hennigsdorf, begann dann auch schon das Schweigen über diesen Protest, das Jahrzehnte in der DDR anhielt. "Darüber reden ging damals nicht, nicht so richtig", sagt Köhnke. Auf ihrem Weg zurück kamen sie damals erstmal bis in den Wedding. Da bekamen sie dann so eine Art Unterstützung, am Rathaus: "Die Leute gaben uns Tipps: Alle Flugblätter weg! Zeitungen und solche Sachen sollten wir wegschmeißen." Dann fuhr man sie wieder hoch in die Nähe der Straßensperre Richtung Hennigsdorf in Heiligensee.
"Die Polizisten winkten uns durch: 'Geht, weiter!'", sagt Köhnke. "Zu jung, um verdächtig zu sein, so etwa dachten die wohl."
Köhnke sagt, sie wurden nicht gefragt, eher aufgefordert zu schweigen. "Sich ruhig verhalten - das war die Devise." Und er sagt, sie wollten eigentlich auch nichts erzählen, denn sie sahen, was mit den Kollegen passierte, die ganz vorne liefen, die gesprochen hatten, die andere überzeugt hatten und die am Potsdamer Platz blieben, als die Panzer anrollten - sie verschwanden.
Geredet wurde über diesen Tag im Osten selten offiziell, und wenn, dann als Aktion des Westens, als ein Komplott, als Kollaboration, als Störmanöver, als Aufwiegelung und als große Hinterhältigkeit des Klassenfeinds - dem Westen.
Im Sommer 1953 standen dann noch lange Zeit Panzer vor dem Werk. Jeder wurde begutachtet, kontrolliert, befragt und war verdächtig. Und dieses Schweigen und der Verdacht - "das hielt" sagt Köhnke. "Ewig."
Sendung: rbb24 Brandenburg Aktuell, 17.06.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Stefan Ruwoldt
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