Interview | Assistierter Suizid
Unter welchen Voraussetzungen darf ein Mensch seinem Leben ein Ende setzen und dabei medizinische Hilfe in Anspruch nehmen? - darüber diskutiert der Bundestag am Donnerstag. Ein Interview über das Für und Wider mit Hospiz-Geschäftsführer Walther Seiler.
rbb: Herr Seiler, wie sehen Sie die Diskussion über die Reform der Sterbehilfe, die der Bundestag heute führt?
Walther Seiler: Es gibt einen Buchtitel, der heißt "Dem Sterben im Leben einen Platz geben". Und ich denke, dass mit der Diskussion nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zunächst etwas ganz Positives passiert [Das Bundesverfassungsgericht hat 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt, Anm.d.Red]. Denn die Menschen setzen sich mit der Frage des Sterbens aktiv auseinander. Sie denken darüber nach, welche Grenzen unser Leben hat und, dass wir Verantwortung für unser Leben übernehmen und Entscheidungen treffen müssen. Das begrüße ich sehr. Als das Urteil kam, war ich aber auch etwas erschrocken, weil ich mich gefragt habe, welche Konsequenzen es haben wird. In der Diskussion mit Menschen, die eine gegenteilige Meinung haben wie ich, bin ich zur Überzeugung gekommen, dass es gut ist, dass jeder Mensch für sich allein entscheiden kann, und dass wir darüber nachdenken in der Gesellschaft, wie wir Menschen begegnen wollen, die für sich entschieden haben, dass sie an der Grenze dieses Lebens sind.
In der Hospizarbeit ist es für Sie alltäglich, dass Menschen am Ende ihres Lebens stehen …
…und dennoch erlebe ich viele Geschichten, in denen ich auch Neues für mein eigenes Leben erfahre. Da gibt es Menschen, die kommen und sagen, ich kann nicht mehr, ich habe keine Lust mehr. Und dann entdecken sie, wenn sie umsorgt werden und Freiraum haben, dass sie an den Kleinigkeiten des Lebens nochmal Freude haben. Ich erinnere mich an eine Frau, der war es ganz wichtig, dass sie morgens um sechs Uhr ihren Espresso und eine Tageszeitung bekam. Und allein dafür hat es sich für sie gelohnt, weiterzuleben.
Wie wird die Möglichkeit eines "assistierten Suizids" bei Ihrer Hospizarbeit diskutiert?
Wir erleben bei uns, dass viele Menschen noch einmal dankbar sind, dass sie mit psychosozialer Zuwendung und individueller Pflege weiterleben können. Darum sagen wir auch, Hospize sind ein Haus des Lebens. Natürlich auch des Sterbens. Aber die Zeit, die jemandem bleibt, kann er sehr bewusst leben. Wir haben für unsere Hospize Leitlinien formuliert, denn es wäre naiv zu denken, dass uns das nicht berühren wird. Natürlich wird es uns früher oder später einholen. Immer dann, wenn sich in der Gesellschaft etwas verändert, dann betrifft es alle und damit auch uns. Unsere Leitlinien besagen, dass keiner zu irgendetwas gezwungen werden darf. Trotzdem werden wir den betroffenen Menschen niemals allein lassen und wir werden bis zum Ende bei ihm bleiben. Wir werden Wege finden in unserem Hospiz, einen Menschen, der sich für den assistierten Suizid entscheidet, zu begleiten.
Nur zu begleiten oder auch zu helfen?
Wir sind nicht diejenigen, die assistieren. Nicht, weil wir es gänzlich verurteilen, sondern weil wir sagen, dass wir in unserer Rolle klar bleiben müssen. Der Großteil der Menschen, der zu uns kommt, erwartet, dass wir ihn hospizlich, palliativ begleiten. Wir sollen die Beschwerden der Menschen lindern, damit sie hier in Ruhe sterben können. Das hat also nichts mit einer ethischen Verwerfung zu tun, sondern wir bleiben einfach bei unserem Auftrag.
Fürchten Sie, dass betroffene Menschen unter Druck kommen könnten?
Diese Sorge habe ich tatsächlich. Ich erinnere mich an eine junge Mutter, die ich in meiner Gemeinde hatte. Die hatte in der pränatalen Diagnostik erfahren, dass ihr Kind eine Behinderung eine Behinderung hat. Sie wurde damals massiv unter Druck gesetzt von verschiedenen Seiten, dass sie das Kind doch abtreiben sollte. Das Kind hatte das Down-Syndrom. Und wer heute ihre fast erwachsene Tochter sieht, würde fragen, wie kann es sein, dass man da Druck auf sie ausgeübt hat? Ich habe Sorge, dass es auch bei solchen Entscheidungen passieren könnte. Dass Menschen sich ihrer Verantwortung entledigen wollen, vielleicht auch nur, weil sie eine überzogene Fürsorge haben nach dem Motto: Mama soll nicht länger leiden, sondern lieber sterben. Die Geschichte zeigt leider, dass wir Menschen gut darin sind, selbst positive Instrumentarien negativ zu nutzen. Und meine Sorge diesbezüglich ist groß.
Ist das ihre größte Sorge?
Nein, mindestens ebensolche Sorgen mache ich mir um die Angehörigen, die Vorbereitung, Begleitung und auch Halt brauchen. Das wird in den Diskussionen häufig vergessen. Und wir reden ja nicht nur über schwerkranke Menschen, die sich für den assistierten Suizid entscheiden könnten. Wir reden aber nicht über den jungen Erwachsenen, der Liebeskummer hat und wir reden auch nicht über den Geschäftsmann, der gescheitert ist und sich nun vor seiner Familie oder Firma geniert. Und für diese Menschen braucht es sehr viel Beratung und Unterstützung, was in unserem Land, glaube ich, gar nicht gegeben ist. Da sehe ich eine Verantwortung, für den Staat, für die Kirche auch für Vereine. Es wird derzeit leider viel Offizielles, aber wenig Konkretes gesagt.
Vielen Dank für das Interview.
Mit Walther Seiler sprach Thomas Rautenberg, rbb24 Inforadio.
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Telefonseelsorge 0800 111 0 111 [telefonseelsorge.de]
Berliner Krisendienst [berliner-krisendienst.de]
Die Online-Beratung für suizidgefährdete junge Menschen der Caritas [caritas.de]
Sendung: rbb24 Inforadio, 06.07.2023, 07:05 Uhr
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