Lehrermangel in Brandenburg
Inzwischen ist jede sechste Lehrkraft in Brandenburg Seiteneinsteigerin oder Seiteneinsteiger. Sie können und sollen sich weiterqualifizieren, um auf das Niveau von grundständigen Lehrkräften zu kommen. Doch die Hürden sind hoch. Von Konrad Spremberg und Linh Tran
Brandenburg braucht Menschen wie Sabrina*. "Ich möchte Schüler auf ihrem Lebensweg begleiten und ihnen die Welt erklären", sagt die Lehrerin, die zuerst gar nicht Lehrerin werden wollte. Vor ein paar Jahren aber, als der Mangel an Lehrkräften immer größer wurde, schien ihr die Idee greifbar: Sabrina wurde Seiteneinsteigerin. Wie viel Kraft und Nerven sie das kosten würde, hat sie unterschätzt.
Seiteneinstieg nennt man in Brandenburg, was in Berlin meist Quereinstieg heißt: Lehrer oder Lehrerin werden ohne Lehramtsstudium. Sabrina hat sich mit ihrem Masterabschluss an einer Handvoll Schulen beworben und wurde genommen – wegen des großen Bedarfs sofort ohne weitere Ausbildung. Ihrem Unterricht sei das anzumerken gewesen, sagt sie heute. "Ich habe das wie eine Vorlesung an der Uni gemacht: immer erzählt, erzählt, erzählt."
Sabrina wollte lernen, wie es besser geht. Brandenburg fördert das. Nach einer pädagogischen Grundqualifizierung, während der Sabrina weiter unterrichtet hat, konnte sie den berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst (BBVD) absolvieren – gemeinsam mit klassischen Referendarinnen und Referendaren an einem Studienseminar.
Wie dringend Brandenburg Menschen wie Sabrina braucht, zeigen die Daten: In den vergangenen sieben Jahren hat sich die Zahl der Seiteneinsteiger im Brandenburger Schuldienst mehr als verdreifacht. Ohne sie würde heute beinahe jede sechste Lehrkraft fehlen.
Tendenz vermutlich steigend: Bis 2030 dürften deutschlandweit mehr als 80.000 Lehrkräfte fehlen. Das geht aus einer aktuellen Untersuchung im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) hervor. Brandenburg gehört zu den Bundesländern, die im Vergleich zu ihrem Bedarf besonders wenige Lehrkräfte selbst ausbilden.
Für die Seiteneinsteigerin Sabrina stand am Ende der Ausbildung ihre Staatsprüfung am Studienseminar in Bernau. Trotz mühsamer Vorbereitung fiel sie im ersten Anlauf durch. An den Tag erinnert sie sich genau. "Um 12:30 Uhr war die Prüfung zu Ende. Um 17 Uhr saß ich immer noch im gleichen Raum." Sie sei perplex gewesen, habe sich kaum bewegen können, denn die schlechte Bewertung sei für sie völlig aus dem Nichts gekommen. "Nach meinen Hospitationen habe ich mir immer die Note geben lassen", erzählt sie über ihre Probestunden. "Ich wurde immer als gut bis sehr gut eingeschätzt."
So dringend sie gebraucht werden – einige der Seiteneinsteigerinnen am Studienseminar Bernau fühlen sich im Vorbereitungsdienst allein gelassen. rbb|24 hat mit zehn von ihnen ausführliche Gespräche geführt. Sie erlebten den Druck in der Ausbildung als hoch und beklagen mangelnde Betreuung. Denn im Vergleich mit Referendarinnen müssen Seiteneinsteiger deutlich mehr unterrichten – bekommen aber keine Ausbildungslehrkräfte an die Seite gestellt.
Der Grund dafür liegt laut dem zuständigen Bildungsministerium im Konzept Seiteneinstieg: "Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger sind Lehrkräfte, während Lehramtskandidatinnen und Lehramtskandidaten sich noch in der Ausbildung befinden", so eine Ministeriumssprecherin. Referendare verdienen entsprechend weniger Geld.
Seiteneinstieg gilt also nicht als Ausbildung. Aber Seiteneinsteiger haben großen Bildungsbedarf, berichten sie uns, denn ihre selbst erworbenen Erfahrungen reichten in vielen Fällen nicht. Seiteneinsteigerin Anke Graff erinnert sich, wie sie in der Weiterbildung erstmals an einer Oberschule unterrichten musste. Kinder in diesem Alter hatte die Sportlehrerin noch nie betreut, wie sie erzählt. "Warum kann da niemand an der Seite stehen, wenigstens am Anfang, und begleiten, helfen, erklären und an die Hand nehmen?"
Mehr Betreuung würde nicht unmittelbar zu einer besseren Weiterbildung führen, so der Leiter ihres ehemaligen Studienseminars in Bernau, Hansjörg Lacher. "Die Frage an Betreuung ist auch: Wie einengend ist sie? Lässt sie die Freiheit, selbst Dinge zu erproben? Wie förderlich ist die jeweilige Betreuung wirklich? Zu enge Betreuung wäre es nicht."
Schon beim heutigen Maß an Betreuung ist die Ressourcen-Knappheit an vielen Schulen immens. Unterstützt eine andere Lehrkraft den Unterricht von Anke Graff, fehlt deren Zeit anderswo. "Jeder Seiteneinsteiger arbeitet als Lehrkraft und sichert in allererster Linie Unterricht ab", so Graff. "Ich würde mir wünschen, dass in dieser Zeit auch die Ausbildung wichtig ist."
Ein ehemaliger Schulleiter, der nach eigenen Angaben regelmäßig Seiteneinsteigerinnen eingestellt hat, formuliert es im Gespräch mit rbb|24 drastischer: "Es geht nur darum, dass Unterricht abgeleistet wird. Wenn jemand dem nicht gewachsen ist, kommt halt der nächste."
Neben dem Unterrichten ist zwar Zeit für die Fortbildung vorgesehen – wie viel Zeit aber bleibt, das richte sich nach den zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen, heißt es vom Landesministerium. Im Klartext: Je nachdem, wie viel Geld eine Schule übrig hat, bleibt den Seiteneinsteiger:innen mehr oder weniger Zeit zum Selberlernen.
Bei ihrem zweiten und letzten Versuch bestand Seiteneinsteigerin Sabrina die Staatsprüfung in diesem Jahr. Ihre Erleichterung dürften sogar die Schülerinnen und Schüler gespürt haben. "Die haben einen siebten Sinn", erzählt sie. "Es gab zwei richtig böse Tiefs in diesem Vorbereitungsdienst. Da haben sie mich direkt gefragt, ob alles okay ist."
Mit bestandener Prüfung ist Sabrina grundständig ausgebildeten Lehrkräften nun weitgehend gleichgestellt, kann nun sogar Beamtin werden. Auch damit lockt Brandenburg Seiteneinsteigerinnen in den Schuldienst.
* Name von der Redaktion geändert
Sendung: rbb|24 Brandenburg aktuell, 04.07.2023, 19.30 Uhr
Beitrag von Konrad Spremberg und Linh Tran
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