Zivilbevölkerung eingeschlossen
Nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel herrscht Krieg. Im dichtbesiedelten Gaza-Streifen sitzen Zivilisten fest, weil die Grenzübergänge geschlossen sind. Angehörige in Berlin fürchten um ihre Familienmitglieder und versuchen verzweifelt, Kontakt zu halten.
Erst im vergangenen Sommer hat er seine Verwandten noch im Gazastreifen besucht, in Beit-Hanoun, im Nordosten, direkt an der Grenze zu Israel. Seine Kinder posierten für Familienfotos mit ihren Cousinen, vor Graffiti an Wänden, die übersetzt hießen: "Humanität".
Seit den Terroranschlägen der radikalislamischen Hamas am vergangenen Samstag auf Israel wirken diese Fotos wie aus einer anderen Zeit. Und der Arzt Mohammed Nassar sagt: "Ich kann nicht mit freiem Kopf meine Tätigkeit vornehmen, weil ich mit der Angst lebe, dass jeden Moment die Nachricht kommt: Meine ganze Familie ist tot."
Nassar wurde in Gaza geboren, er lebt seit 30 Jahren in Deutschland und arbeitet als Gefäßchirurg. Beim Besuch in seiner Berliner Praxis am Donnerstag merkt man Nassar die Anspannung und Sorge an. Jetzt herrscht Krieg - und Mohammed Nassar versucht täglich mit seinen Geschwistern und seiner Mutter in Kontakt zu treten.
Die israelische Luftwaffe bombardiert und beschießt als Reaktion auf den Hamas-Terror Ziele in Gaza, das trifft auch die Zivilbevölkerung. "Wenn ich schreibe, dann kommt eine Antwort nach zwei Tagen zurück. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Die Ängste. Das Bombardieren", sagt Nassar. Seine Verwandten seien in Schulen untergekommen, als Notunterkünfte. Ihre Häuser seien zerstört worden.
Auch die Berlinerin Hanadi T. macht sich große Sorgen. ihre Mutter kann momentan nicht aus Gaza nach Berlin zurückkehren. Die Gefahr für die Bevölkerung dort dürfte in den kommenden Tagen noch steigen.
Etwa zwei Millionen Menschen leben in dem schmalen Küstenstreifen, mehr als die Hälfte davon in Flüchtlingslagern. Der gesamte Gaza-Streifen ist nur halb so groß wie Hamburg, gleichzeitig aber eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. Sie ist nun komplett abgeriegelt, Nahrungsmittel, Strom, Treibstoff kommen nicht mehr hinein. Am Freitag forderte die israelische Armee die Bevölkerung auf, den Norden Gazas binnen kürzester Zeit zu evakuieren und in den Süden zu fliehen, weil Militäraktionen bevorstünden – voraussichtlich eine große Bodenoffensive [tagesschau.de].
Das betrifft laut UN etwa 1,2 Millionen Menschen, die Vereinten Nationen kritisieren die Evakuierung in einem so kurzen Zeitraum deshalb. Auch, weil Schwerkranke und Schwerverletzte in den Krankenhäusern dadurch in Lebensgefahr gerieten. "Wir werden die Attacken kontrollieren, damit sie sich bewegen können", sagte der israelische Armeesprecher am Freitag. Aber er fügte auch hinzu: "Es ist eine Kriegszone."
Berichten der UN zufolge soll die Hamas palästinensische Zivilisten daran gehindert haben, den Norden zu verlassen. Die Terrororganisation erklärte, es werde keine "Vertreibung" geben – wohl auch, weil sich die Hamas-Leute inmitten der Zivilbevölkerung sicherer vor Angriffen fühlen und diese bewusst dafür nutzen. Zivilisten werden in der Kosten-Nutzen-Rechnung der Terroristen zum Faustpfand. Menschen wie die Mutter von Hanadi T.
Die Berlinerin ist vor ein paar Wochen zum ersten Mal seit 35 Jahren nach Gaza gereist, um ihr neu geborenes Enkelkind zu sehen. Diese Woche hätte sie eigentlich zurückkommen wollen. Dann begann der Terror der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung und israelische Soldaten, die Hamas brachte noch dazu etwa 150 Geiseln in ihre Gewalt [tagesschau.de]. Und Israel reagierte mit einer Gegenoffensive.
"Es ist sehr gefährlich. Ständig nur Raketen, Raketen. Es gibt keine Pause. Ich lebe an der Wand", erzählt die Mutter in einem Telefongespräch, an dem auch ihre Tochter in Deutschland teilnimmt, die den Kontakt hergestellt hat. Sie äußert große Sorge, dass man anhand von Namen und Bildern herausfinden könnte, wo genau sie sich gerade in Gaza befindet. Deshalb möchte sie im Gespräch mit dem rbb auch anonym bleiben.
Jetzt kommt die Mutter nicht mehr nach Berlin, auch wenn sie deutsche Staatsangehörige ist. Denn verlassen können die Menschen den Gazastreifen nicht - alle drei Übergänge sind dicht. Die Tochter kann auch von Deutschland aus nichts machen."Es war bis jetzt immer in den Interviews davon die Rede, dass deutsche Staatsbürger über Tel Aviv mit Flugzeugen ausreisen können. Ich konnte aber im Internet keine klaren, konkreten Anweisungen finden, wie es möglich gemacht werden kann, dass auch die deutschen Staatsangehörigen, die in Gaza feststecken, da rauskommen", sagt Hanadi T.
Über die elektronische Erfassung Deutscher im Ausland – ELEFAND – können sich aktuell deutsche Staatsbürger in Israel melden. Es werden Flüge von Tel Aviv nach Deutschland organisiert, deutlich später, als das andere Länder hinbekommen haben. Hanadi T. hat ihre Mutter dort ebenfalls registriert. Bisher ohne Erfolg. Aber nun könnte - so die Hoffnung - doch noch Bewegung in die Sache kommen. Laut Auswärtigem Amt befindet sich im Gazastreifen zurzeit "eine niedrige dreistellige Anzahl an Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft", sagte dessen Sprecher am Freitag. Man stehe in ständigem Kontakt mit ihnen und den israelischen und ägyptischen Kollegen dazu, wie man sie bei Ausreiseplänen unterstützen könne. Genaueres erfährt man vom Auswärtigen Amt aber aus Sicherheitsgründen nicht.
Der Arzt Mohammed Nassar wirkt an diesem Donnerstag erleichtert, als er seine Schwester in Gaza am Telefon erreicht. "Wie geht es euch? Geht es euch gut? Wurde die Schule bombardiert, in der ihr gerade seid? Nein, es gibt keine Verletzten bei euch zuhause?", fragt Nassar seine Schwester auf arabisch. Kurze Zeit später beendet er das Gespräch wieder. "Zum Glück leben sie alle noch", sagt Nassar. Manche ihrer Nachbarn seien tot.
Sendung: rbb24 Abendschau, 13.10.2023, 19:30 Uhr
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