Reportage | Sonnenallee in Neukölln
In der Neuköllner Sonnenallee entlädt sich der Nahost-Konflikt immer wieder. Die Polizei versucht, das Demonstrationsverbot durchzusetzen. In der arabischen Community gibt es dazu verschiedene Meinungen. Ein Stimmungsbild von Max Kell
Es wird verkauft, gegessen oder einfach schnell weitergelaufen: Es ist Wochenmarkt am Berliner Hermannplatz. Der Platz am großen Umsteigebahnhof zwischen Neukölln und Kreuzberg ist voll.
Nur ein paar Meter weiter beginnt die Sonnenallee, von vielen auch die "arabische Straße" genannt. Cafés, Restaurants, Kleiderläden - die meisten Geschäfte sind in arabischer Hand. Auch hier ist einiges los - aber auffällig weniger als normalerweise. Eine fast schon ruhige Stimmung am Nachmittag, in einer Straße, die sonst aus allen Nähten platzt.
An vielen Abenden in den vergangenen zwei Wochen war das anders: aufgebrachte, teils aggressive Stimmung. Aus den Seitenstraßen strömten die Menschen Richtung Sonnenallee, trotz Demonstrationsverbots. Brennende Straßensperren, Böller, antisemitische Parolen, es kommt zu Gewalt gegen die Polizei. An zwei aufeinander folgenden Tagen werden 80 Beamte verletzt. Die Sonnenallee ist im Fokus der Berichterstattung in ganz Deutschland.
Nur zwei Querstraßen neben der Sonnenallee liegt das Rathaus Neukölln. Bezirksbürgermeister Martin Hikel hat hier sein Büro. Die Böller, das Feuerwerk, die Sirenen waren bis hier zu hören. Über die Ausschreitungen sagt der SPD-Politiker: "Die Zeit momentan ist sehr entlarvend. Denn sie zeigt, was unter der Haube schon seit vielen Jahren brodelt. Und das ist der israelbezogene Antisemitismus."
Und der wird in den Krawallnächten erschreckend sichtbar: Sprechchöre und offen gezeigte Sympathien für die Terrororganisation Hamas. Es ist eine laute Gruppe, die scheinbar die Sonnenallee übernimmt. Viele, die hier anders denken, werden gar nicht mehr wahrgenommen. Auch weil es kaum möglich ist, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Sogar am Nachmittag, in der ruhigen Stimmung, ist es schwer, jemanden zu finden, der über die vergangenen Tage sprechen möchte. Es gibt eine Absage nach der anderen. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Angst vor Ärger mit der eigenen Community oder auch kein Vertrauen in die deutschen Medien. Viele fühlen sich in die falsche Ecke gedrängt, sagen: "Wir werden eh nicht richtig zitiert."
Die Unsicherheit ist auch in einem Geschäft im hinteren Teil der Straße spürbar. Der Mitarbeiter am Tresen hat von seinem Chef die Anweisung bekommen, nicht mit den Medien zu sprechen. Egal, ob arabische oder deutsche Presse. Alles werde falsch interpretiert, sagt er. Dann lieber nicht reden. Das Ergebnis: So bestimmen die, die sich lautstark oder radikal äußern, die Wahrnehmung von allen.
Auch in einer Konditorei ein paar hundert Meter weiter ist der Verkäufer hinter dem Tresen zuerst zurückhaltend. Doch nach einem kurzen Gespräch beginnt er zu erzählen. Die vergangenen Tage haben die Straße verändert, sagt er. "Viele Familien, Frauen kommen gerade kaum noch auf die Sonnenallee. Sie haben Angst. Einige Jugendliche haben hier alles kaputt gemacht. Und das betrifft uns alle."
Nicht nur das Geschäft leide darunter, auch das Bild in der Öffentlichkeit sei verheerend. Die Tür geht auf, neue Kunden betreten den Laden, das Gespräch ist vorbei.
Die jungen Leute? Noor (28 Jahre) und sein Freund (27 Jahre) stehen nur hundert Meter weiter und warten auf ihr Essen. Beide haben den deutschen Pass, beide arbeiten im Gesundheitswesen. Ihre Eltern sind vor vielen Jahren aus Palästina geflüchtet.
"Es war Chaos", beschreibt Noor die vergangene Woche. Er selbst war abends auch öfter hier. "Aber nur zum Gucken." Ein guter Freund von ihnen kommt direkt aus Gaza. 37 Familienangehörige hätte er bereits verloren - und das wollen sie so nicht hinnehmen. "Es geht um die Leute, die gerade umgebracht werden. Die Kinder, die sterben. Wir wollen, dass der Krieg aufhört."
Ihrer Meinung nach sei die Stimmung vor allem gekippt, weil wegen des Demonstrationsverbotes alle Versammlungen abgesagt wurden. "Wir wollten, dass die Regierung uns hört. Die Welt uns auch hier sieht." Von der Hamas halten sie nichts. Oder wie sie es formulieren: "Es geht uns nicht um Hamas. Sondern um Menschenleben."
Aber klar verurteilen wollen sie die Terrororganisation auch nicht. Es ist ein Gespräch mit Fragen und immer wieder Gegenfragen. Durch die vergangenen Wochen fühlen sie sich in Berlin noch fremder, wie beide erzählen. Eine Lösung? Nicht in Sicht. Für das kommende Wochenende sind wieder größere Versammlungen angekündigt.
Hinweis: Dieser Beitrag wurde zuerst am 26.10.2023 auf tagesschau.de veröffentlicht.
Sendung: rbb24 Abendschau, 26.10.2023, 19:30 Uhr
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Beitrag von Max Kell
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