Unbegleitete minderjährige Geflüchtete
Rund acht Monate warten unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Berlin auf das sogenannte Clearingverfahren, erst dann kann die Suche nach einem Schulplatz beginnen. Eine lange Zeit - doch für mehr Tempo fehlt das Personal. Von Leonie Schwarzer
In einem großen Werkstattraum in Berlin stehen Jugendliche an langen Tischen. Es riecht nach Holz, sie hämmern, bohren und schrauben. Gemeinsam mit Künstler:innen und Sozialarbeiter:innen bauen die unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten hier grün-rot blinkende Kunstobjekte, beugen sich über Glühbirnen und Kabel.
Die meisten Gleichaltrigen in Berlin dürften um diese Zeit in der Schule sitzen, doch die Jugendlichen hier müssen warten. Ihr Status ist nicht offiziell geklärt, das sogenannte Clearingverfahren steht ihnen noch bevor. Ehsan und Samiullah kommen beide aus Afghanistan, seit mehr als zwei Monaten sind sie schon in Deutschland. "Wie die anderen hier möchte ich gerne zur Schule", sagt der 17-jährige Ehsan, "ich hoffe, dass es schnell vorangeht." Der 16-jährige Samiullah stimmt ihm zu: "Ich würde gerne endlich zur Schule", sagt er.
Zwei Stockwerke höher malen einige junge Geflüchtete Kunstwerke. In der Ecke stehen Staffeleien, auf den Tischen Pinsel und Farbtuben. "Karussell Lernwerkstätten" nennt sich das ganze Projekt. Gegründet, um die Jugendlichen während der langen Wartezeit zu beschäftigen.
Etwa 40 Geflüchtete aus Erstaufnahmeeinrichtungen in ganz Berlin kommen sechs Wochen lang jeden Werktag hierher, danach ist die nächste Gruppe dran. "Das ist auf keinen Fall ein Schulersatz", sagt die Projektleiterin Claudia Benter. Die Jugendlichen basteln, lernen erste Worte auf Deutsch. Sie würden hier ein Lernangebot bekommen, könnten Interessen herausfinden, Gemeinschaft erleben, sagt Benter. Wichtig sei aber eigentlich, dass die Jugendlichen so schnell wie möglich nach ihrer Ankunft in die Schule kommen. Denn die lange Wartezeit sei schwierig für die Geflüchteten: "Es ist ähnlich wie bei Menschen, die ihre Arbeit verloren haben", so die Kunsttherapeutin, "die Motivation sinkt, die Frustration steigt und die Anbindung ist schwierig."
Finanziert wird das Projekt "Karussell Lernwerkstätten" von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie. "Auch für uns ist die Lage nicht befriedigend", sagt der Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU). Idealerweise sollte das Clearingverfahren schon kurz nach der Ankunft beginnen. Mitarbeiter:innen der Senatsverwaltung klären dann im Gespräch mit den Jugendlichen: Woher kommen sie? Sind sie wirklich minderjährig? Gibt es Familie in Deutschland?
Erst nach dem Clearingverfahren kann die Suche nach einem Vormund, einer Wohngruppe und einem Schulplatz beginnen. Doch momentan warten die Jugendlichen etwa acht Monate lang auf das Gespräch mit den Berliner Behörden. "Wir haben aufgrund der Menge an Menschen, die zu uns kommen, nicht mehr die Möglichkeiten, den sogenannten Goldstandard aufrecht zu halten", sagt Liecke.
Nach Angaben der Senatsverwaltung kamen 2015 rund 4.250 unbegleitete Kinder und Jugendliche nach Berlin, in den Folgejahren sanken die Ankunftszahlen dann. Doch seit vergangenem Jahr steigen sie wieder: 2022 erreichten fast 3.200 unbegleitete minderjährige Geflüchtete Berlin, in diesem Jahr bislang knapp 2.600. Die meisten Jugendlichen kommen derzeit aus Afghanistan, gefolgt von Syrien, Ukraine, Türkei und Benin.
Die momentan hohen Ankunftszahlen treffen auf den sowieso schon vorhandenen Fachkräftemangel - in den Berliner Behörden und den Schulen. Momentan hat die Clearingstelle etwa 35 Mitarbeiter:innen, neun zusätzliche sollen zur Unterstützung hinzukommen. Es brauche erfahrene Sozialarbeiter:innen für den Job, sagt Liecke, deshalb sei es schwer neue Mitarbeitende zu finden. Und auch die zusätzlichen Stellen würden das Verfahren nur leicht beschleunigen. "Insgesamt haben wir auch weiterhin Engpässe", sagt der CDU-Politiker.
Damit die Jugendlichen schneller in die Schule kommen, nicht erst frühestens nach acht Monaten, probiere man außerdem die Anmeldung vorzuziehen. Aber: "Das Problem ist nach wie vor aber die Kapazität", sagt Liecke, "wir brauchen Lehrkräfte, wir brauchen Räumlichkeiten." Es gebe insgesamt in Berlin zu wenig Schulplätze, für zusätzliche Willkommensklassen fehle daher im Moment die Infrastruktur und das Personal.
Das Land müsse dafür sorgen, dass die Jugendlichen früher ins Clearingverfahren kommen, fordert Ronald Reimann von Xenion. Die Organisation kümmert sich um besonders schutzbedürftige Geflüchtete - unter anderem unterstützt sie unbegleitete minderjährige Geflüchtete mit therapeutischen Angeboten. "Das Land Berlin hat viel gemacht, hat es geschafft, Obdachlosigkeit zu vermeiden", erkennt Reimann an. Doch jetzt müsse mehr getan werden, immer mehr junge Geflüchtete bräuchten therapeutische Unterstützung. Die Wartezeit sei für die Jugendlichen eine erhebliche Belastung, häufig seien sie sehr lange auf der Flucht gewesen, hätten Schlimmes erlebt, sagt Reimann: "Sie werden untergebracht, aber sind erstmal in einer Art Perspektivlosigkeit." Es brauche deshalb einen riesigen Kraftakt, damit die lange Wartezeit wieder verkürzt werde - auf höchstens drei Monate, das sei der Standard.
Für Samiullah und Ehsan wäre das positiv, denn die beiden haben ihren Worten zufolge große Pläne. Samiullah möchte gerne Zahnarzt werden, wie er sagt. Ehsan erzählt, er hoffe auf eine Profikarriere im Fußball - oder ein Studium, am liebsten Mechanik. Doch um diese Ziele irgendwann einmal zu erreichen, brauchen sie zuallererst einen Schulplatz. Und auf den müssen sie vermutlich noch monatelang warten.
Sendung: rbb24 Abendschau, 23.10.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Leonie Schwarzer
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