KI-Frühwarnsystem vor Schulabbrüchen
In den USA kommen an einigen Schulen Frühwarnsysteme auf Basis von Künstlicher Intelligenz zum Einsatz. Sie sollen Schulabbrüche verhindern. Ein Berliner KI-Experte ordnet im Interview ein, ob solche Instrumente auch hier Anwendung finden könnten.
rbb|24: Herr Burchardt, wie genau funktioniert so ein Frühwarnsystem für schulische Leistungen überhaupt?
Aljoscha Burchardt: In den USA geben die Lehrerinnen und Lehrer meines Wissens auch heute schon so eine Art Frühwarnung ab - Prognosen darüber, ob eine Versetzung bei Schülerinnen und Schülern möglicherweise gefährdet ist oder es dafür Anzeichen gibt. Es ist ein etwas anderes Setting als bei uns. Dafür werden bestimmte Daten gesammelt: Fehltage, Schulverweise, Noten und vielleicht ein paar andere Daten. In diesem Fall wird das KI-System mit den Daten gefüttert. Das System erkennt dann Muster und kann Vorhersagen machen. Leute mit einem bestimmten Verhalten hatten zuvor möglicherweise zwei Jahre später Versetzungsprobleme oder den Abschluss nicht gemacht.
Das sind schon Dinge, die wir Menschen nicht so ohne weiteres aus diesen Daten ablesen können, weil wir die Daten nicht mit einer Mustererkennung angucken. Wir können dafür vielleicht eher sagen, ob das jetzt normal ist oder ein Pubertätsknick in der Leistung. Aber die Maschinen geben eben nochmal einen zweiten Blick drauf.
Kommen denn solche Frühwarnsysteme in den USA schon flächendeckend zum Einsatz?
Es wird in einigen Bundesstaaten getestet oder diskutiert. Schon in anderen Bereichen, wie zum Beispiel beim Einsatz von KI in der Justiz, sind es überwiegend demokratisch regierte Staaten, die sich dafür interessieren [tagesschau.de]. Ich glaube, dass hier die Hoffnung mitschwingt, dass man mit so einer Technologie auch mehr Gerechtigkeit erzeugen kann. Der Lehrer und die Lehrerin haben vielleicht ihre Lieblinge oder gucken vielleicht auch auf die Kinder mit einer besseren Brieftasche ein bisschen stärker. Hier kommt so eine sozialdemokratische Idee zum Vorschein, zu sagen: Vor der KI sind alle gleich. Die erkennt bei jedem das, was getan werden muss. Vielleicht fallen sonst Leute durch, weil sie nicht so dem typischen Bild des Leistungsträgers entsprechen.
Sie haben es schon angedeutet, aber was verspricht man sich denn von so einem Frühwarnsystem, was Lehrkräfte so nicht leisten könnten?
Ich denke, du kannst nicht alle 20 Schülerinnen und Schüler so im Blick haben und es gibt schleichende Veränderungen, die vielleicht gar nicht so auffallen. Wir haben ja nicht immer eine ideale Welt, wo ein Klassenlehrer oder eine Klassenlehrerin mit den Schülern die ganze Zeit unterwegs ist. Es gibt Lehrerwechsel. Es gibt sehr viele Fachlehrer und es kann sein, dass sich ein Konglomerat von Anzeichen ergibt, über verschiedene Fächer hinweg und über verschiedene Tage hinweg. Diese Stärke des Systems, wirklich alle und alles im Blick zu haben, ist dann vielleicht der Vorteil der KI.
Wie bewerten Sie den hohen Grad an Überwachung, dem die Schülerinnen und Schüler durch dieses Frühwarnsystem ausgesetzt sind?
Wenn man so will, werden Schüler und ihre Leistung rund um die Uhr von ihren Lehrerinnen und Lehrern überwacht. Bisher war es nur nicht so stark technisch unterstützt. Wir sehen hier zwei Seiten einer Medaille. Was auf der einen Seite Individualisierung ermöglicht, individuelle Förderung, individuelle Medizin, ja individuelle Hilfe, kann auf der anderen Seite dann wieder heißen: Da kommen Sachen ans Tageslicht und werden weitergegeben, von denen die Leute es nicht wollen.
Man kann gar nicht sagen: Es ist so immer falsch oder so immer richtig, sondern man muss sich vielmehr den Einzelfall angucken. Die Art der konkreten Gestaltung ist oft viel wichtiger, als zu sagen, "Wir ziehen eine rote Linie" und "Nie und nimmer wollen wir in der Schule eine Leistungsbewertung". Das wäre vollkommener Quatsch, denn Teil unseres Schulsystems ist ja die Leistungsbewertung.
Wäre ein solches System Ihrer Meinung nach auch an Schulen in Berlin und Brandenburg denkbar?
Naja, im Schulalltag kennen wir diese Art der Vorhersage bisher nicht und wüssten erstmal nicht, was wir damit machen sollten. Aber allgemein zu sagen: Man misst die Leistungen über die Zeit, vergleicht die mit irgendwelchen Durchschnitten und guckt dann, wo spezifischer Förderbedarf ist und ob es an einer Stelle einen untypischen Knick gibt, wenn die Schüler außerdem ihre Hausaufgaben zunehmend digital einreichen - dann wird das Ganze interessant. Dafür müssen auch die anderen Prozesse drum herum da sein. Wenn wir uns also in einem reinen Tinte- und Kreide-basierten Umfeld bewegen - dann ist einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt.
Das Frühwarnsystem ist das eine. Was für andere Formen gebe es Ihrer Meinung nach, KI-Anwendungen an unseren Schulen einzusetzen?
Da gibt es so viele, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Das eine ist selbstverständlich die gesamte Bürotätigkeit, die ja nicht zu verachten ist: Lehrpläne schreiben, Raumbelegungen machen und so weiter. Bei der Unterrichtsvorbereitung gibt es ganz viele Tools, die einem helfen: Zum Beispiel, um Multiple-Choice-Tests oder Fragen aus gewissen Texten zu erzeugen. Oder um passende Texte für Schülerinnen und Schüler herauszusuchen, die zum Beispiel 20 Prozent unbekannte Vokabeln haben und die Schüler:innen interessieren.
Auch bei der Korrektur können Systeme unterstützen. Dann können die Lehrer sich über die interessanten Dinge und über das Feedback mehr Gedanken machen, als sich zwanzig Mal dieselben Rechtschreibfehler im Vokabeltest angucken zu müssen. Außerdem sollte KI als Thema in der Schule nicht nur irgendwo in die Informatik abgeschoben, sondern integriert werden: Im Geschichtsunterricht geht es um Mustererkennung in der Archäologie, in Deutsch geht es um Korpuslinguistik [ids-mannheim.de] und im Sozialkundeunterricht geht es um Fake News.
KI-Anwendungen haben einen wachsenden Einfluss auf die Gesellschaft. Wie wichtig ist es für Sie als Wissenschaftler, jungen Leuten ein Grundverständnis von Künstlicher Intelligenz zu vermitteln?
Wichtig ist, dass man aufs Leben vorbereitet. Unschön, finde ich es, wenn der Vormittag und der Nachmittag, wie ich das immer so nenne, so dermaßen auseinanderklaffen - in der Technologie, die man benutzt, in der Art, wie man kommuniziert, in der Art, wie man sich mit Leuten verabredet, wie man seine Ergebnisse dokumentiert. Das ist so unterschiedlich, dass ich glaube: Irgendwann wird es schwer für Schülerinnen und Schüler, die Verbindung zwischen dem Leben, in dem sie leben - mit iPhones und mit Web und so weiter - und der Schule hinzukriegen.
Dabei möchte ich nicht despektierlich die schönen alten Bildungsinhalte schlecht reden, aber man muss sie eben irgendwie verheiraten mit der aktuellen Welt. Und wenn es um Fake News, Beeinflussung, Konsum oder Terror in den sozialen Medien geht, sind da natürlich die Stichworte Medienbildung und Awareness. Und das ist auch Sache der Schulen. Wir schützen Kinder nicht, indem wir ihnen die schlechten Dinge des Lebens vorenthalten, sondern wir müssen sie auch für eine kritische Auseinandersetzung mit dem vorbereiten, was sie sehen und hören.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Lena Petersen.
Artikel im mobilen Angebot lesen