Jurist zu pro-palästinensischen Demos
Die Polizei verbietet seit dem Großangriff der islamistischen Hamas auf Israel viele pro-palästinensischen Demonstrationen in Berlin. Im Interview erklärt der Berliner Verfassungsrechtler Michael Wrase, warum er das für juristisch für kritikwürdig hält.
rbb|24: Herr Wrase, welche Voraussetzungen müssen in Deutschland erfüllt sein, um eine Demonstration zu verbieten? Oder besser gesagt: die Genehmigung nicht zu erteilen?
Michael Wrase: Grundsätzlich gilt die Versammlungsfreiheit und die kann eingeschränkt werden - aber nur dann, wenn die öffentliche Sicherheit gefährdet ist durch die Versammlung als solche. Es reicht nicht aus, wenn einzelne Teilnehmer der Versammlung vielleicht Straftaten verüben, was die Veranstalter nicht wollen, sondern die Versammlung an sich. Von der muss eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, also die Erfüllung von Straftatbeständen ausgehen. Und nur unter diesen Umständen kann eine Versammlung auch verboten werden, wenn mildere Mittel, zum Beispiel Auflagen, nicht ausreichen. Das ist natürlich eine Prognoseentscheidung, aber die muss gut begründet sein.
Diese Gefährdung der öffentlichen Sicherheit: Wer definiert die?
In erster Linie sind das die Strafgesetze. Wenn also zum Beispiel gegen den Volksverhetzungsparagrafen verstoßen wird oder auch die Billigung oder Verherrlichung von Straftaten, von Gewalttaten oder Ähnliches, sind das Straftatbestände. Und wenn davon auszugehen ist, dass eine große Menge innerhalb einer Versammlung derartige Handlungen begeht, dann ist die öffentliche Sicherheit gefährdet.
In Berlin wurden viele pro-palästinensische Veranstaltungen untersagt, auch entsprechende Ersatzveranstaltungen. Was sagen Sie als Verfassungsrechtler dazu?
Grundsätzlich gilt immer das Prinzip, dass die Versammlungsfreiheit zu wahren ist. Das heißt, wir haben auch einen Grundsatz dass die Versammlungsfreiheit nur in konkreten Fällen eingeschränkt werden darf, wenn wirklich davon auszugehen ist, dass die öffentliche Sicherheit gefährdet wird. Das Bundesverfassungsgericht stellt daran hohe Anforderungen. So ein pauschales Verbot halte ich unter diesen Bedingungen für verfassungsrechtlich problematisch.
Davon abgesondert gab es auch das Verbot bestimmter Symbole, auf manchen Demos und auch in Schulen wurden beispielsweise die Palästina-Flagge und die Kufiya, das Palästinensertuch, konfisziert. Ein anderes Beispiel sind Ausrufe wie "Free Palestine". Würden Sie darunter noch mal differenzieren?
Das kann natürlich als Auflage gemacht werden, aber nur dann, wenn das tatsächlich auch rechtswidrig ist - und nicht bei all diesen genannten Symbolen kann man per se davon ausgehen. Das Palästinensertuch, die Kufiya, zum Beispiel war bislang nicht generell als rechtswidrig angesehen worden und erfüllt auch erstmal keinen Straftatbestand. Insoweit stellt sich die Frage, ob man zum Beispiel ein Verbot darauf stützen könnte, dass Versammlungsteilnehmer dieses Tuch tragen. Das wäre schon höchst fragwürdig. Auch der Ausruf "Free Palestine" muss immer im Kontext gesehen werden, ob damit gleichzeitig das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird – sobald das der Fall ist, ist es zweifellos rechtswidrig.
Wie Sie gesagt haben, war das Palästinensertuch zum Beispiel bisher nicht problematisch. Vor zwei Wochen gab es aber den Überfall der Hamas auf Israel, also ein übergeordnetes internationales Ereignis. Kann das ein Grund sein, so etwas in dem Zusammenhang rechtlich neu zu bewerten?
Das ist sehr problematisch. Wenn sich jetzt eine Spontandemonstration bildet und dann gleichzeitig Äußerungen getätigt werden, die antisemitisch sind oder das Existenzrecht des Staates Israel in Frage stellen oder ähnliches und dann werden diese Symbole getragen – dann könnte das in diesem Kontext vielleicht noch eine Verstärkung sein. Aber unabhängig davon kann man jetzt den Aussagegehalt von solchen Kleidungsstücken nicht einfach komplett neu bewerten. Natürlich ist es jetzt ein anderer Kontext. Das muss auch berücksichtigt werden.
Aber da muss schon noch mehr dazukommen, dass man sagt: Hier werden die Hamas unterstützt und Terrorangriffe gebilligt, allein durch das Tragen des Palästinensertuchs. Gerade jetzt, wo man sieht, der Konflikt ist höchst komplex, es gibt auch auf der palästinensischen Seite viele Opfer. Das führt natürlich dazu, dass Menschen Solidarität zeigen wollen, aber nicht unbedingt terroristische Angriffe billigen. Das kann man nicht einfach so pauschal daraus ableiten.
Trotzdem wirkt es auf mich so, dass gerade mit sehr unscharfen Begriffen gearbeitet wird. Es wird gesagt "pro-palästinensische Demos", da wird nicht differenziert zwischen beispielsweise Hamas-Unterstützung oder Solidaritätsbekundungen. Nehmen Sie das auch so wahr?
Ich müsste mir diese konkreten Verbote noch einmal genauer anschauen. Aber tatsächlich habe ich den Eindruck, dass es auch der Polizei schwerfällt, diese Trennlinie klar zu ziehen zwischen dem, was tatsächlich zulässige Meinungsäußerung pro Palästina ist – und dem, wo terroristische Angriffe gebilligt werden, volksverhetzende Inhalte geäußert werden und ähnliches. Man hat einfach Angst, deswegen macht man pauschale Verbote. Aber das ist eben verfassungsrechtlich fragwürdig.
Diese Verbote kommen mit dem Argument: Wir haben in der Vergangenheit gesehen, was auf solchen Demonstrationen passiert ist, zum Beispiel antisemitische Ausrufe. Ist die Sorge davor, dass sich das wiederholt, Grund genug, für einen längeren Zeitraum solche Veranstaltungen zu verbieten?
Das würde ich nur dann als zulässig ansehen, wenn wir wirklich von einer akuten Gefährdungslage ausgehen können. Das ist aus meiner Sicht generell über diesen langen Zeitraum nicht gegeben. Grundsätzlich gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Man müsste also zunächst einmal zusammen mit den Veranstaltern schauen, ob bestimmte Auflagen möglich sind, ob solche Verstöße von Einzelpersonen vielleicht durch Ordner geahndet werden können. Hier gibt es auch ein Kooperationsgebot zwischen Polizei und Veranstaltern. Sobald die Veranstalter versichern, dass sie in Einzelfällen dagegen einschreiten oder die Personen von einer Versammlung ausschließen, kann die Polizei das nicht als Anlass nehmen, das einfach pauschal zu verbieten.
Nochmal konkret: Welche Maßnahmen müssen denn auf Seiten der Protestierenden ergriffen werden, um diese Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu minimieren oder ganz auszuschließen?
Es muss ganz klar sein, dass die Versammlung nicht darauf angelegt ist, solche verbotenen Äußerungen zu tätigen. Und gleichzeitig müssten die Veranstalter dafür Sorge tragen, dass zum Beispiel bestimmte Gruppen, die das dafür nutzen wollen, dann auch möglichst von der Versammlung getrennt werden oder darauf hingewiesen werden, dass sie an dieser Veranstaltung nicht weiter teilnehmen können, weil sie ansonsten den Veranstaltungszweck gefährden. Oder man schließt sie eben mit Ordnern von der Veranstaltung aus. Ich denke, wenn das von den Veranstaltern glaubhaft gemacht wird, dann gibt es unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keinen Grund, die Versammlung insgesamt zu verbieten.
Im Vorgespräch sagten Sie mir, es reiche nicht aus, wenn Einzelpersonen auffällig werden, sondern es müsse aus einer Mehrheit heraus passieren. Können Sie das nochmal erklären?
Natürlich kann ich als Veranstalter einer Versammlung nicht für alle Äußerungen einstehen, die Personen tätigen, die auf einer solchen Versammlung sind. Ansonsten würde die Versammlungsfreiheit quasi leerlaufen. Dann müsste ich ja sozusagen eine Garantie davon dafür übernehmen, dass da niemand irgendwie strafbare Handlungen begeht. Die Polizei ist dazu da, gegebenenfalls einzuschreiten gegen sogenannte Störer, wenn Menschen gegen Strafgesetze verstoßen. Wenn allerdings die Gesamtveranstaltung davon geprägt ist, dass davon ausgehend in einer Vielzahl Straftaten begangen werden, dann gefährdet die Gesamtveranstaltung die öffentliche Sicherheit. Und dann kann sie natürlich verboten werden.
Offensichtlich wird mit unterschiedlichen Gruppen hier unterschiedlich verfahren. Etwas überspitzt gefragt: Wieso dürfen Corona-Leugner oder sogenannte "Reichsbürger" mit Reichskriegsflagge und antisemitischen Äußerungen durch Berlin ziehen, aber Palästinenser nicht mit der Palästina-Flagge?
Ich denke, das sind vor allen Dingen politische Gründe: Die Solidarität mit Israel, natürlich auch die Angst, dass bei solchen Veranstaltungen möglicherweise antisemitische Äußerungen fallen. Das ist für Deutschland noch mal ein größeres Problem und wird auch vielleicht international noch stärker gesehen als in anderen Ländern. Ich glaube, da herrscht einfach eine Angst auf Seiten der Politik und Polizeibehörden. Es gibt auch die Schwierigkeit, dass man mit diesen Veranstaltern von Versammlungen in der Vergangenheit noch nicht zusammengearbeitet hat. Man muss herausfinden: Sind die denn verlässlich? Da macht man lieber ein pauschales Verbot, und damit scheint man sozusagen politisch auf der richtigen Seite zu stehen. Ob das jetzt verfassungsrechtlich trägt, würde ich, wie gesagt, bezweifeln.
Warum?
Ich denke, pauschale Versammlungsverbote sind nie gut. Und ich glaube auch nicht, dass es sinnvoll ist, berechtigten Protest oder auch emotionale Äußerungen, die zu einem Konflikt da sind, generell zu unterbinden. Verhältnismäßig wäre, wirklich in jedem Einzelfall genau zu prüfen und erst mal andere Möglichkeiten wie Auflagen, Kooperation mit den Veranstaltern et cetera genau zu prüfen. Erst wenn diese Mittel ausgeschöpft sind, könnte man sagen: Okay, unter den Umständen muss man einfach davon ausgehen, dass hier Straftaten begangen werden.
Es gilt auch ein Verbot mehrerer Ersatzveranstaltungen, für einen relativ langen Zeitraum, bis zum 27. Oktober. Was halten Sie davon aus rechtlicher Perspektive?
Das macht die Sache natürlich noch komplexer, weil man sich dann fragen muss: Was ist eine solche Ersatzversammlung oder Ersatzveranstaltung? Die soll natürlich der Umgehung dieses Versammlungsverbots dienen, also ändert man geringfügig nicht nur den Ort, sondern auch das Motto. Dann führt man im Grunde genommen dieselbe Veranstaltung durch. Aber das ist für die Versammlungsbehörden Auslegungssache. Wie weit reicht das? Wie unterschiedlich muss die Versammlung tatsächlich sein? Eigentlich müsste man das im Einzelfall wieder genauer prüfen, aber so schafft man sich mit dem pauschalen Verbot einen Graubereich – und gibt der Polizei damit weitreichende Einflussmöglichkeiten.
Welchen Spielraum sehen Sie für die Gruppen, die jetzt illegal demonstrieren, auf legale Art und Weise zu demonstrieren?
Zunächst mal finde ich es bemerkenswert, dass es bislang noch zu keiner Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gekommen ist. Das spricht im Vergleich zu anderen Gruppen dafür, dass es bei den Anmeldern hier einen geringeren Organisationsgrad gibt und sie bisher seltener den Rechtsweg beschreiten.
Letztlich müssen aber hier die Gerichte Klarheit schaffen. Ist das überhaupt zulässig in dieser pauschalen Form und mit diesen langen Fristen? Dann wissen wir auch genauer, unter welchen Bedingungen Demonstrationen auch zugelassen werden müssen. Ansonsten geht es darum, zu sagen: Klar, wir sorgen dafür, dass auf dieser Veranstaltung keine strafbaren Symbole gezeigt werden, keine strafbaren Äußerungen getätigt werden. Und wenn das geschieht, dann sorgen wir dafür, dass die störenden Personen von der Versammlung ausgeschlossen werden.
Bei der Auslegung solcher Demonstrationsverbote spielen auch politische Entscheidungen eine Rolle. Wie ordnen sie den Begriff der deutschen Staatsraison bei dieser rechtlichen Abwägung ein?
Die Staatsraison, dass Deutschland an der Seite von Israel steht, ist erstmal eine politische Entscheidung. Das hat historische Gründe, und es ist klar, dass die Erfahrungen des Holocaust das Grundgesetz stark geprägt haben. Dass man daraus sozusagen eine generelle Aussage der Verfassung ableiten kann, in Konflikten immer auf der Seite Israels zu stehen, halte ich als Verfassungsgebot für nicht begründbar. Politisch ist es eine ganz klare Linie, aber rechtlich gesehen, als Verfassungsgut, müsste das deutlicher in bestimmten Gesetzen geregelt sein. Eine pauschale Berufung auf die Staatsraison für solche Versammlungsverbote halte ich für absolut problematisch.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Jonas Wintermantel.
Sendung: rbb24 Abendschau, 20.10.2023, 19:30 Uhr
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