Unklare Regeln für Abrissgenehmigungen
Die Bewohner eines Berliner Mietshauses kämpfen seit zwei Jahren gegen Abriss- und Umbaupläne der neuen Eigentümer. Sie haben Sorge, sich künftig ihre Wohnungen nicht mehr leisten zu können. Doch eine Gesetzeslücke macht es ihnen schwer. Von Wolf Siebert
Eine Schönheit ist die Immobilie in Berlin-Mitte wahrlich nicht. Im Vorderhaus liegt dicker Staub auf den Fensterscheiben einiger leerstehender Wohnungen. An den Fassaden des Seitenflügels und des Hinterhauses haftet alter grauer Putz. An einigen Fenstern klaffen tiefe Risse in den Außenwänden, und in einer Hofecke liegt ein Schuttberg. Gut die Hälfte der Wohnungen stehen leer.
Mieterin Simone Siegel-Dadgar, ihr Mann und ihre Tochter wohnen dennoch gerne hier, seit über 20 Jahren: "Der frühere Eigentümer hat sich zwar nur um das Nötigste gekümmert, aber es hat immer alles funktioniert", sagt sie. Und: "Die Mieten sind bezahlbar geblieben." Familie Siegel-Dadgar hat viel investiert und ihre Wohnung im Hinterhaus auf eigene Kosten saniert. Sie würde gerne hierbleiben, auch weil die Miete noch immer günstig ist.
Doch sie und weitere Mieter sind in Sorge. 2019 wurde die Immobilie nämlich an eine Immobiliengesellschaft verkauft. Diese will das Vorderhaus abreißen und durch einen Neubau ersetzen. Auch eine Tiefgarage soll gebaut werden. Die Gesellschaft hat beim Bezirk einen Antrag auf Abriss gestellt.
Erfahrungsgemäß führen solche Bau-Projekte häufig zu höheren Mieten. "Wir haben den Eigentümern mehrmals geschrieben und versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Denn wir wollen unsere preiswerten Wohnungen nicht verlieren", sagt Simone Siegel-Dadgar. "Hier wohnen Pfleger, Briefträger, Erzieher und Verwaltungsmitarbeiter. Sie können auf dem freien Wohnungsmarkt keine 1.500 Euro für eine 2-Zimmer-Wohnung bezahlen", sagt die Sozialwissenschaftlerin.
Deshalb haben sich die Mieter organisiert und kämpfen seit gut zwei Jahren um den Erhalt ihres Wohnraums: Sie informierten die Bauaufsicht, den Stadtrat für Bauen, die Bezirksbürgermeisterin und die BVV-Mitte, auch den Bausenator und baten um Unterstützung. Und sie sammelten Unterschriften. Bislang haben aber diese Aktivitäten für die Mieter noch zu keinem positiven Ergebnis geführt. Denn es gibt eine rechtliche Lücke - im Zweckentfremdungsverbotsgesetz.
Danach ist der Abriss eines Mietshauses grundsätzlich möglich. Das Gesetz sagt aber auch: Der abgerissene Wohnraum muss durch neuen Wohnraum ersetzt werden - durch preiswerten Wohnraum, der nicht mehr als 9,17 Euro netto kalt pro Quadratmeter kosten darf. So legte es der Senat fest.
Vor wenigen Monaten kassierte allerdings das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Mietobergrenze von 9,17 Euro. Das Land Berlin habe für diese Grenze keine Gesetzgebungskompetenz, hieß es. Der Eigentümer müsse aber Ersatzwohnraum zu "angemessenen Bedingungen" schaffen. Als Anhaltspunkt verwandte das Gericht eine Formulierung, die schon seit Langem bei Entscheidungen zur Zweckentfremdung benutzt wird: Dieser Ersatzwohnraum muss "für einen durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmerhaushalt bezahlbar" sein.
Die Bauverwaltung des Senats arbeitet nun daran, die neue Rechtslage in die Verordnung des Zweckentfremdungsverbotsgesetzes einzuarbeiten. Es geht darum, den Bezirken für die Abrissgenehmigungen Anhaltspunkte zu geben – ohne dabei eine konkrete Mietobergrenze zu nennen. Diese juristische Präzisierung ist wichtig: Die Zahl der Abrisse in Berlin steigt, wenn auch auf niedrigem Niveau: von 369 im Jahr 2018 auf 516 im Jahr 2021.
Simone Siegel-Dagar geht es aber nicht nur um Abriss und Neubau und um höhere Mieten. Vor ihrer Wohnungstür hängt noch immer eine verdreckte Staubschürze. Denn im Sommer 2022 hatte der Eigentümer mehrere Wohnungen entkernt. "Fünf Monate hat die Entkernung dann gedauert: Lärm, Dreck, Staub, und der Schutt wurde einfach in den Hinterhof gekippt", blickt Siegel-Dagdar zurück.
"Entkernung" bedeutete in diesem Fall: Aus mehreren Wohnungen des Hinterhauses, die übereinanderliegen, sind die Dielen, die Schüttung in den Decken bzw. Fußböden und die Bodenplatten entfernt worden. Die Wohnungen sind unbewohnbar.
Siegel-Dagdar befürchtet, dass sie und die anderen Mieter durch solche Maßnahmen vertrieben werden sollen. Das glaubt auch der zuständige Baustadtrat von Mitte Ephraim Gothe, der für die Bauaufsicht zuständig ist. Er schrieb den Eigentümern laut "Tagesspiegel": "Der Zustand der Hoffläche und der Treppenhäuser, die unterlassene Instandhaltung von Fenstern und WCs in Wohnungen, die Art und Weise, wie Baumaßnahmen bereits durchgeführt wurden, lassen nur einen Schluss zu: Sie wollen alles dafür tun, dass Ihre Mieter:innen das Weite suchen." Auch Bezirksbürgermeisterin Stefanie Remlinger (Grüne), die den Bereich der Zweckentfremdung unter sich hat, spricht von einem "radikalen Vorgehen".
Aktuell geht Gothe aber nicht davon aus, dass der Bezirk den Eigentümern die Abrissgenehmigung verweigern kann. Er appelliert daher an die Eigentümer, das Vorderhaus nicht abzureißen, sondern stattdessen aufzustocken. "Auch das kann wirtschaftlich sein", sagte er der rbb24-Abendschau.
Eine Pattsituation. Auf der einen Seite der Eigentümer, der sein Eigentumsrecht verteidigt. Auf der anderen Seite die Mieter, die ihr Recht auf Wohnen geltend machen. Und eine rechtliche Situation, die seit dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts unklar ist.
Deshalb hat Bezirksbürgermeisterin Remlinger einen Wunsch: Dass die Verwaltung des Bausenators den Bezirken möglichst bald Anhaltspunkte für die Genehmigungspraxis gibt: "Was bedeutet ‘Schaffung von neuem Wohnraum nach Abriss‘‚ nach der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts konkret? Wir brauchen ein Instrumentarium, damit die Mieterschaft nicht komplett ausgetauscht wird", sagte sie rbb24. "Sonst haben wir Aufwertungsprozessen nichts entgegenzusetzen."
Zu diesem Instrumentarium gibt es erste Ideen, zum Beispiel Neu-Mieten, die sich an der ortsüblichen Vergleichsmiete orientieren, sagt Wibke Werner vom Berliner Mieterverein: "Nach dem Abriss eines Hauses entstehen häufig Neubauwohnungen, die sich nur wenige leisten können." Im vergangenen Jahr wurde durch die Antwort des Senats auf eine parlamentarische Anfrage der Linken deutlich, dass im Zeitraum von 2018 bis 2021 nach Hausabrissen nur selten preiswerter Ersatzwohnraum geschaffen worden ist.
Simone Siegel-Dadgar wünscht sich vor allem mehr Unterstützung durch den Bezirk. Und einen besseren, einen funktionierenden Mieterschutz. Sie hat Sorge, dass sie sich ihre Wohnung künftig nicht mehr leisten kann. Stattdessen habe sie das Gefühl, dass die Sicherung von Eigentumsrechten Vorrang gegenüber sozialen Aspekten hat
Am Freitag treffen sich Mieter, Bezirksamt und Mieterverein zu einem "Runden Tisch" und einer Ortsbegehung. Die Eigentümer ließen auf rbb-Anfrage durch ihren Anwalt mitteilen, dass sie sich zu dem gesamten Komplex nicht äußern wollen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 13.10.2023, 6 Uhr
Beitrag von Wolf Siebert
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