Staatsbesuch des türkischen Präsidenten
Der türkische Präsident kommt nach fast drei Jahren erstmals wieder nach Berlin. Viele Menschen mit türkischen Wurzeln haben eine Haltung zu seiner Politik. Offen Position zu beziehen, ist für sie aber nicht immer leicht. Von Birgit Raddatz
Es ist Ercan Demir anzumerken, wie unangenehm ihm Fragen über den türkischen Staatspräsidenten sind. Eigentlich habe er eine Prämisse, sagt der Betreiber einer Änderungsschneiderei in Berlin-Schöneberg: Über Religion, Geld oder Politik spricht er als Geschäftsmann nicht. Doch immer wieder käme auch unter seinen Kundinnen und Kunden die Frage auf, ob er nun für oder gegen Erdogan sei. "Wenn ich dann sage, dass ich Erdogan für einen guten Präsidenten halte, habe ich schon Angst, dass manche nicht mehr als Kunden hierherkommen."
Der 43-Jährige trägt die Haare zu einem Dutt, das gelbe Maßband baumelt um seinen Hals. Vor knapp 15 Jahren kam Ercan Demir aus der Türkei nach Deutschland – fast genauso lange besitzt er sein eigenes Geschäft, die Haupteinnahmequelle für die vierköpfige Familie.
Über 2.000 Kilometer liegen zwischen Berlin und Ankara. Zwar verfolgt Ercan Demir, was in der Türkei passiert. Doch eigentlich treibt ihn mehr die deutsche Politik um, das kürzlich verabschiedete Heizungsgesetz etwa. Nur: Darüber wollten die wenigsten mit ihm diskutieren.
Das politische Geschehen in seiner Wahlheimat kann er nicht mitbestimmen. Denn auch nach 15 Jahren darf Ercan Demir in Deutschland nicht wählen. Derzeit müsste er für den deutschen Pass seine türkische Staatsangehörigkeit abgeben. Eine doppelte Staatsbürgerschaft ist bislang nur Menschen aus der EU, der Schweiz sowie aus Ländern, die ihre Bürger nicht aus der Staatsangehörigkeit entlassen, erlaubt.
Wie ihm geht es vielen: In Deutschland leben rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, allein in Berlin sind es 200.000. Etwa die Hälfte davon besitzt die türkische Staatsbürgerschaft.
Menschen aus der Türkei hätten eigentlich immer das Gefühl, sich entscheiden zu müssen, sagt Yasar Aydin von der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Entweder bist du für Deutschland oder für die Türkei. Das halte ich für problematisch, weil etwa ein Franzose oder ein Italiener beide Staatsbürgerschaften haben darf."
Erdogan habe es der Diaspora mit türkischem Pass in den letzten Jahren erheblich erleichtert, über die Konsulate an Wahlen in der Türkei teilzunehmen, und gebe ihnen damit das Gefühl, auf ihrer Seite zu stehen, ist sich der Forscher sicher.
Dieses Narrativ des "Starken Mannes", der sich besonders vom Westen nichts gefallen lässt, fruchte sehr gut. Das sei aber kein rein türkisches Phänomen und beobachte er auch zum Beispiel bei AfD-Wählern, betont Yasar Aydin.
Eine dezidiert kritische Meinung zu Erdogan hat die Journalistin und Buchautorin Özge Inan, die in Berlin geboren und aufgewachsen. Sie plädiert schon lange dafür, Erdogan nicht mehr zu Staatsbesuchen einzuladen. "Er hat die Demokratie und Pressefreiheit abgeschafft, er hat völkerrechtliche Angriffe auf Nordsyrien und Nordirak gestartet und er ist ein Frauen- und LGBTIQ-Feind. Die Liste könnte man noch ewig fortführen."
Aussagen des türkischen Präsidenten etwa zum Krieg zwischen Israel und der Hamas hätten sie nicht überrascht. Statt sie als Terrororganisation zu bezeichnen, habe Erdogan die Hamas in Schutz genommen. Politisch stehe Erdogan den Muslimbrüdern nah: "Die Rolle des politischen Islams im Nahost-Konflikt ist klar. Deshalb hat es mich nicht verwundert, dass er auf der oberflächlichen, auf der Jargon-Ebene, komplett ein Antisemit ist".
Linke Oppositionelle wie sie selbst hätten in Deutschland genauso wenig mit AKP-Sympathisanten zu tun wie in der Türkei auch, sagt die 26-Jährige. "Aber klar ist, es gibt niemanden mit türkischen Wurzeln, der keine Meinung zu Erdogan hat." Im Sommer veröffentlichte sie ihr erstes Buch, das die Geschichte türkischer kommunistischer Menschen und ihre Flucht in den 1980-er Jahren erzählt. Der Roman ist stark angelehnt an die Geschichte ihres Vaters.
Doch so deutlich wie die Journalistin wollen sich manche nicht mehr öffentlich positionieren. Zwar sei er klar gegen Erdogan, sagt ein anderer Geschäftsmann. Ein Interview wollen er und seine Bekannten aber nicht geben. Zu präsent sind ihnen Angriffe auf türkische Regierungskritiker, auch in Berlin.
Und auch der Schneider Ercan Demir macht sich offenbar Sorgen. Nach dem Interview schickt er ein Video, in dem es um den Prozessauftakt gegen einen Türken im baden-württembergischen Sindelfingen geht. Dieser hatte zugegeben, zwei seiner Vorgesetzen getötet zu haben. Vor Gericht hatte er ausgesagt, er sei von ihnen gemobbt worden und hätte Angst um seinen Job und vor einer Abschiebung in die Türkei gehabt. Die beiden hätten für die AKP gestimmt, er sei regierungskritisch.
Eine eindeutige Positionierung für oder gegen Erdogan: Sie kann im schlimmsten Fall gefährlich sein.
Sendung: rbb24 Abendschau, 16.11.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Birgit Raddatz
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