Klimaprotest in Deutschland
Seit fast fünf Jahren protestieren Menschen in Deutschland im großen Stil für mehr Klimaschutz. Echte politische Erfolge sind jedoch rar. Was bedeutet das für die Bewegung und wie könnte es weitergehen? Von Simon Wenzel
Ein Massenprotest auf der Straße des 17. Juni in Berlin auf die Beine zu stellen - das war das Ziel der "Letzten Generation" vor zwei Wochen. Am Ende kamen zwischen 600 Demonstranten (Angaben der Polizei) und 1.400 (Angaben der "Letzten Generation"). Die Straße blieb eine ganze Weile gesperrt - die erhoffte Großmobilisierung von vielen Klimagruppen und eine durchschlagende öffentliche Wirkung blieben jedoch aus.
Die Gruppe "Extinction Rebellion" hatte spontan die Teilnahme abgesagt. Infolge der alles überlagernden Ereignisse in Israel und Gaza zeigte man sich bei "XR" unsicher über die Wirkung einer solchen Aktion zu diesem Zeitpunkt. Die "Letzte Generation" zog den Protest dennoch durch.
Ein spannendes Beispiel sei das, sagt Protestforscher Felix Anderl vom Zentrum für Konfliktforschung an der Universität Marburg, dass - ausgerechnet beim Protest unter der Überschrift "Alle fürs Klima" - am Ende nicht alle eigentlich verabredeten Gruppen gemeinsam auf der Straße standen. Anderl erforscht die Klimabewegung schon länger, wertet Medien und Literatur aus, spricht mit Akteuren der wichtigen Gruppen und beobachtet Demonstrationen. Auf die Frage, wo die deutsche Klimabewegung steht - rund fünf Jahre nach Beginn der Proteste unter dem Motto "Fridays for Future", sagt er: "Was den Einfluss auf den Diskurs, auf die Medien und die Sichbarmachung dieses Themas angeht, ist das insgesamt eine Erfolgsgeschichte." Es gebe allerdings ein großes "Aber": Denn die gewünschten Gesetzesänderung sind bislang noch nicht dabei herausgekommen. Wenn die Klimaproteste Auswirkungen auf die deutsche Politik gehabt hätten, dann nur unterbewusst.
Stattdessen erscheint die Protestbewegung aufgeteilt in drei große Gruppen: Die "Letzte Generation", "Fridays for Future" und "Extinction Rebellion".
Geht es um Protestaktionen, wird in den letzten Monaten vor allem über die "Letzte Generation" geredet und diskutiert. Mit ihren lauten und provokanten Protestformen - Farbattacken, versuchte Massenproteste und Sitzblockaden auf Straßen - sieht sich die Organisation auf dem richtigen Weg. "Wir merken, dass auf uns reagiert wird – von der Politik, von der Justiz, der Polizei und den Medien - und dass unsere Ideen und die Fakten in die Öffentlichkeit getragen werden", sagt die Berliner Pressesprecherin der "Letzten Generation", Marion Fabian, dem rbb. Ihrer Ansicht nach ist die "Letzte Generation" inzwischen die einzige Klimabewegung in Deutschland, über die noch maßgeblich gesprochen wird.
Die Frage ist allerdings: in welchem Kontext. Eine Umfrage, die der SWR im Sommer im Rahmen einer Dokumentation durchführte, kam zum Ergebnis, dass 85 Prozent der Befragten die Protestaktionen der "Letzten Generation" für nicht gerechtfertigt halten [tagesschau.de]. Marion Fabian sagt dazu: "Wir sind nicht angetreten, um einen Beliebtheitspreis zu gewinnen. Wir sind angetreten, um die Regierung aufzufordern, auszusteigen aus fossilen Energien bis 2030."
Die durchaus vorhandenen Forderungen an die Politik - einen Gesellschaftsrat zu gründen und bis 2030 auf fossile Brennstoffe zu verzichten - sind allerdings eher selten Teil der öffentlichen Debatte, wenn es um die "Letzte Generation" geht. Stattdessen drehen sich Diskussionen in sozialen und klassischen Medien häufig um die Aktionen selbst, die Verkehrsbehinderungen der "Klima-Kleber", um aggressive Reaktionen der Autofahrer darauf und das Verhalten der Polizei.
Protestforscher Anderl sieht die Verantwortung hierfür zwar zum Teil bei den Medien, aber auch bei den Aktivisten selbst. "Ich war mir, bis ich mit Leuten von der 'Letzten Generation' gesprochen habe, nicht klar, dass die Zielgruppe eigentlich ein bürgerliches Publikum der Mitte ist", sagt Anderl. "Dieses Publikum wollen sie ansprechen. Es ist aber auch das Publikum, was am allergischsten reagiert auf diese Proteste." Ob die Provokation der Zielgruppe die richtige Taktik sei, sei fraglich. "Ich würde sagen, das letzte Jahr hat gezeigt, dass es eher zu Gegenbewegungen und nicht zur erwünschten Politik-Umformulierung führt", so Anderl.
Während die "Letzte Generation" den wohl größten Nachrichten-Bass erzeugt, hat "Fridays for Future" (FFF) seine Strategie in der Vergangenheit verändert: "Unser neues Konzept ist die Zusammenarbeit", sagt die Berliner Sprecherin Clara Duvigneau. FFF kooperiert nach eigenen Angaben inzwischen mit unterschiedlichen Akteuren aus der Zivilgesellschaft wie "Changing Cities", "Deutsche Wohnen enteignen" oder auch der Gewerkschaft Verdi. "Wir wollen eine breite Bewegung für die Masse sein - für Schulkinder, für Menschen, die sich fürs Klima einsetzen und auch für die Oma, die das ebenfalls wichtig findet", sagt Duvigneau. FFF wolle "als seriöser Player wahrgenommen werden", betont Duvigneau. Gespräche mit Abgeordneten gehören demnach inzwischen zur Tagesordnung.
Mit der "Letzten Generation" als thematisch am nächstliegenden Aktivistengruppe wird bisher aber auffällig wenig kooperiert. "Die 'Letzte Generation' und wir haben sehr unterschiedliche Protestformen und das ist auch in Ordnung so", sagt Duvigneau dazu. Ihre Kollegin bei der "Letzten Generation", Marion Fabian, sagt zu Begründung, warum die beiden Gruppen selten zusammenfinden: "'Fridays for Future' hat großartig angefangen. Sie haben das Thema groß gemacht, aber leider haben sie an Wucht verloren."
Statt den Schulterschluss mit FFF zu suchen, setzt die "Letzte Generation" auf ihr internationales Netzwerk "A22". Zu diesem gehören Organisationen aus zehn Ländern, darunter "Letzte Generation" österreich und Italien, "Stopp Öl" aus Großbritannien und Norwegen oder "Renovierung" aus der Schweiz und Frankreich.
Protestforscher Anderl sieht im Nebeneinander statt Miteinander der großen deutschen Klimaprotest-Organisationen erstmal kein Problem. "Im Prinzip ergibt das total Sinn", sagt er. "Eine Bewegung braucht eigentlich beides: eine diplomatische Strömung, die mit dem Establishment arbeiten kann, aber eben auch die radikalere Flanke, um weiterhin Aufruhr zu stiften." Gäbe es irgendwann nur die diplomatischen Strömungen, laufe die Bewegung Gefahr, selbst im Establishment anzukommen. Dann könnte am Ende eine Partei stehen, die zwar in der politischen Landschaft, aber vielleicht nicht mehr im Sinne der Bewegung agiere.
Auch andere Protestforscher beschreiben diesen "Flankeneffekt" in Bezug auf die deutsche Klimabewegung. Eine Vermutung. Möglicherweise erscheint "Fridays for Future" gerade wegen der provokativen Proteste der "Letzten Generation" als attraktiver Gesprächspartner auf Politik und Gesellschaft.
Diese Konstellation des ergänzenden Nebeneinanders aufrechtzuerhalten ist die Herausforderung, vor der die Bewegung steht. Denn irgendwann bröckelt in Protestbewegungen erfahrungsgemäß der Zusammenhalt - und nach Anderls' Ansicht scheint dieser Punkt in der deutschen Klimabewegung gerade erreicht. "Wir können quasi live beobachten, wie es schwieriger wird, weil sich die unterschiedlichen Gruppen mit den verschiedenen Schwerpunktsetzungen der jeweils anderen schwertun."
Protestbewegungen verlaufen wissenschaftlich formuliert in "Zyklen": Erst sind Aktivisten und Medien Feuer und Flamme für den Protest, dann erlahmen Eifer und Medieninteresse gleichermaßen. Meist passiert das nach fünf oder sechs Jahren, sagt Anderl. Danach würden viele Bewegungen entweder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden oder sich aufspalten - in institutionelle und radikale Akteure. In letztere Richtung scheine es auch beim Klimaprotest zu gehen.
Dass die Bewegung erlischt, erwartet Anderl nicht, denn die Klimakrise sei ein weltweites Thema und zwar eines, was so wichtig ist, dass Anderl es "Überlebensthema" nennt - vor allem für den globalen Süden. Aus diesen Ländern dürfte der Protest weiter angetrieben werden, so die Prognose, und könnte damit auch die deutschen Gruppen in Zukunft weiter motivieren. "Deswegen gehe ich nicht davon aus, dass die Klimabewegung aufhört oder zu Grunde geht", sagt Anderl. Eine noch stärkere Ausdifferenzierung und Aufspaltung als bisher, könne er sich allerdings vorstellen.
Bleibt die Frage nach den Erfolgen. In den Niederlanden gab es jüngst ein Beispiel: Dort brachten Klimaaktivisten durch einen wochenlangen Massenprotest auf einer Autobahn in Den Haag das Parlament dazu, zentrale Forderungen voranzutreiben: den Abbau von Subventionen für Öl und Gas. Die Regierung soll nun bis Weihnachten konkrete Vorschläge zum
Abbau der Regelungen vorlegen. Organisiert wurden die Proteste vom niederländischen Zweig von "Extinction Rebellion".
Die deutsche Partnerorganisation lässt sich nun davon inspirieren. Sprecherin Manon Gerhadt sagte dem rbb, "XR" arbeite derzeit an einer neuen Kampagne, die sich, ähnlich wie in den Niederlanden, auf den Abbau von fossilen Subventionen fokussiere. "Das ist nicht neu, das haben wir auch schon vorher gefordert. Der Protest in den Niederlanden hat uns aber Mut gemacht, dass so etwas Ähnliches in Deutschland auch funktionieren kann", sagt Gerhardt. Man sei dabei, mit anderen Gruppen Bündnisse zu schließen. Die Auftaktproteste sind für den 9. Dezember geplant. Auch die Kommunikation mit der "Letzten Generation" solle besser werden.
Auch andere Gruppen loben das Beispiel aus den Niederlanden. FFF-Sprecherin Clara Duvigneau nennt sie einen "großartigen Erfolg für die Klimabewegung". Auch die "Letzte Generation" sieht ein Vorbild für den hiesigen Klimaprotest. "Wir werden noch mehr Massenblockaden machen in Berlin", sagt Marion Fabian. Allerdings nicht nur aufgrund des Erfolgs in den Niederlanden. "Wir haben festgestellt, dass die uns Zulauf bringen. Das ist niedrigschwellig, es können viele mitgehen, weil es nicht gefährlich ist und die Menschen können sich dabei unterhalten", so Fabian.
Vom Ausmaß der Protestaktion in den Niederlanden, sind die Massenproteste der "Letzten Generation" in Deutschland weit entfernt. In den Haag demonstrierten an einigen Tagen mehrere Tausend Menschen auf der Autobahn, in einigen Medienberichten war sogar von Zehntausenden die Rede.
"Fridays for Future" hat in der Vergangenheit zwar schon mehrfach gezeigt, dass es mit seinen Klimastreiks Tausende Menschen zu Demonstrationen bewegen kann. In Deutschland erscheinen Protestaktionen mit Tausenden Menschen wie in den Niederlanden allerdings nur realistisch, wenn alle deutschen Klimabewegungen gemeinsam mobilisieren.
Die "Letzte Generation" setzt auf den 25. November: Für diesen Tag rufen die Klimaaktivisten erneut zu einem "Massenprotest" auf der Straße des 17. Juni in Berlin auf.
Sendung: rbb24 Abendschau, 10.11.2023, 19:30 Uhr
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