Aggressivität im Straßenverkehr
Ich halte mich an die Regeln, aber die anderen nicht: Das ist eine der zentralen Erkenntnisse aus einer neuen Studie zur Verkehrssicherheit. Ob Autofahrer, Radfahrer oder Fußgänger: Viele Befragte spüren mehr Aggression. Was sind die Gründe?
Eine Befragungsstudie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) zur Sicherheit im Straßenverkehr legt nahe, dass Verkehrsteilnehmer andere als rücksichtsloser und aggressiver wahrnehmen als in der Vergangenheit - und dass die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten im Straßenverkehr zugenommen hat.
In der Befragung des Instituts O.trend im Auftrag der Unfallforschung der Versicherer gaben 56 Prozent der Teilnehmer an, dass sie schneller fahren als sonst, wenn sie sich ärgern. "Bei dieser Frage müsste man doch eigentlich klar sagen: 'Nein, das trifft nicht zu.' Das Auto ist kein angemessener Ort, um Aggressionen loszuwerden", sagte Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, am Montag in Berlin dazu. Er sagte aber auch, dass die Studie lediglich einen Trend der vorherigen bestätige und die Ergebnisse die Versicherer daher nicht wirklich überraschten.
Die repräsentative Befragung, die am Montag veröffentlicht wurde, ermittelt seit Jahren mit Hilfe von 16 identischen Fragen die entsprechenden Einstellungen von Menschen im Straßenverkehr. Etwa 2.000 Menschen werden dafür seit 2010 in mehrjährigen Abständen befragt, Nutzerinnen und Nutzer sämtlicher Verkehrsmittel. Ihre Verteilung was Alter, Geschlecht, Wohnort, Verkehrsmittel und andere Merkmale angeht, entspricht der Bevölkerung. Gegenüber früheren Befragungen haben sich die Werte verschlechtert. Die von der Polizei registrierten Unfallraten sind hingegen gesunken, im vergangenen Jahr lagen sie sowohl in Berlin als auch in Brandenburg so niedrig wie seit vielen Jahren nicht mehr.
In der aktuellen Befragung gaben rund die Hälfte der Befragten an, dass sie sich zumindest gelegentlich gleich im Straßenverkehr abreagieren müssen, wenn sie sich geärgert haben. Im Jahr 2016 lag dieser Wert nur knapp halb so hoch.
Immerhin jeder fünfte Autofahrer "räumt" schon einmal die Überholspur mit der Lichthupe frei. Der Vergleichswert von 2016 lag hier ebenfalls nur rund halb so hoch. Ein knappes Drittel (31 Prozent) tritt eigenen Angaben zufolge gelegentlich aufs Gaspedal, wenn sie überholt werden - ohne dass es einen anderen Grund gäbe, als sich abzureagieren.
Auf die Aussage "Drängelt mich die Person hinter mir, trete ich kurz auf die Bremse, um diese zu ärgern" sagten 44 Prozent, dass dies bei ihnen zutrifft - auch hier wurden alle Nennungen außer einem klaren Nein zusammengefasst.
21 Prozent gaben an, dass sie beim Überholen auf der Autobahn auch mal mit Lichthupe und Blinker auf sich aufmerksam machen - ein Plus von neun Prozentpunkten im Vergleich zu 2016. 34 Prozent sagten, dass sie auf "notorische Linksfahrer" auch mal dicht auffahren, damit diese die Überholspur frei machen - ein Plus von 8 Prozentpunkten zu 2016.
Besonders interessant ist der große Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, ein bekanntes psychologisches Phänomen aus der Verkehrsforschung. Zwar sehen die meisten befragten Verkehrsteilnehmer Aggression als großes Problem, es fehlt aber das Bewusstsein, dass sie selbst dazu beitragen. Mit anderen Worten: Daneben benehmen sich immer die anderen - so sagten es viele der Befragten, wie auch in den Vorjahren schon, ganz gleich, welches Verkehrsmittel sie nutzen.
So antworten 96 Prozent aller für die Studie befragten Autofahrer, dass sie Radfahrer mit ausreichendem Abstand überholen, gleichzeitig aber bei 93 Prozent der anderen Autofahrer wahrnehmen, dass sie Radfahrer zu eng überholen. Die Radfahrer selbst sind in Bezug auf ihr Selbstbild nicht viel besser: Knapp die Hälfte gibt zu, gelegentlich auf den Gehweg auszuweichen, beobachtet dieses Verhalten aber bei 92 Prozent der anderen Radfahrer. Dass dieser Abstand zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht mit dem tatsächlichen Verhalten im Verkehr übereinstimmen kann, liegt auf der Hand.
Die Gründe für die wahrgenommende höhere Aggression im Verkehr, wie sie viele Befragte in der Studie schildern, sind vielschichtig - sie werden in der Untersuchung nicht abgefragt. Eine Interpretation bot am Montag Roland Stimpel, der Vorsitzende des Interessenvereins "FUSS e.V.": "Verkehrsteilnehmer sind zum Teil deshalb aggressiver geworden, weil die Verkehrswelt einfach enger geworden ist. Es wohnen mehr Menschen in den Städten, der Raum in den Straßen wird knapper und die unterschiedlichen Ansprüche werden deutlicher geäußert", sagte Stimpel dem rbb.
Die Befragung beschränkte sich allerdings nicht nur auf Verkehrsteilnehmer in Städten, auch im ländlichen Raum, wo es weniger Platzkonflikte gibt, wurden Menschen befragt. Stimpel nannte noch einen weiteren Grund, der aus seiner Sicht für ein größeres Beharren auf das eigene Recht spricht: Die Verkehrsteilnehmer forderten anspruchsvoller ihre Rechte ein. "Alle Gruppen haben sich organisiert. Autofahrer sagen, wir wollen das und das behalten, die Radfahrer, wir wollen die Radwege dazu. Auch wir Fußgänger sind offensiver geworden und sagen, wir wollen die Gehwege nicht weiter einschränken lassen", sagte Stimpel.
Männer fühlen sich der Umfrage zufolge im Verkehr deutlich sicherer als Frauen - auch das eine bekannte Erkenntnis aus der Verkehrsforschung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Männer im Durchschnitt risikobereiter fahren als Frauen. 49 Prozent der Frauen gaben an, dass sie sich im Verkehr "sicher" oder "sehr sicher" fühlen - bei den Männern waren es 64 Prozent. Die Zahlen bestätigen die Ergebnisse der vorherigen Studie von 2019. Passend dazu befürworteten Frauen in der Umfrage deutlich stärker Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit.
Vor allem eine Null-Promille-Grenze für alle Kraftfahrer halten viele für eine gute Maßnahme - 68 Prozent aller Befragten zeigten sich dafür offen. Strengere Geschwindigkeitsbegrenzungen werden im Vergleich deutlich kritischer gesehen.
Inwieweit Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit befürwortet werden, hängt auch vom Alter ab: Tendenziell stehen ältere Menschen strengeren Tempolimits offener gegenüber als jüngere Befragte. Dafür können die Älteren Maßnahmen wie einer verpflichtenden Selbstauskunft ab 70 Jahren alle fünf Jahre weniger abgewinnen. Hier dürfte eine große Rolle spielen, dass sie von einer solchen Maßnahme selbst am stärksten betroffen wären. Einen verpflichtenden Sehtest alle 15 Jahre befürworteten aber auch viele der älteren Befragten.
Doch wie lässt sich das Verhalten im Straßenverkehr wieder in andere Bahnen bringen? Mit mehr Kontrollen und deutlicheren Sanktionen, folgern die Unfallversicherer. Bisher scheinen die Menschen keinen allzu großen Kontrolldruck zu verspüren. 52 Prozent der Befragten gaben an, dass sie zuletzt vor mehr als fünf Jahren oder noch nie von der Polizei kontrolliert wurden. Im vergangenen Jahr sind demnach nur 7 Prozent der Befragten kontrolliert worden.
"Das Problem ist, dass wir natürlich nicht nur spontane Aggressionstäter haben, sondern ganz viele Verkehrsteilnehmer, die genau wissen, dass das, was sie tun, keine Folgen haben wird, weil man da in der Regel nicht kontrolliert wird. Und das kann so nicht bleiben", sagte der Leiter der Unfallforschung der Versicherer Brockmann dem rbb. Er forderte strengere Kontrollen von Verstößen, die bislang nur selten geahndet würden. Als Beispiele nannte er das Befahren von Busspuren oder unerlaubtes Überholen - Verstöße, die auch deswegen kaum geahndet würden, weil es nicht genug Polizeibeamte bei der Überwachung der Verkehrssicherheit gebe.
Strengere Kontrollen und höhere Bußgelder fordert auch der Fußverkehr-Lobbyist Stimpel und nennt dabei das Beispiel Frankreich. Dort koste etwa das Falschparken auf Gehwegen oder das Fahren mit Fahrrädern und E-Scootern darauf 135 Euro Bußgeld. "Und deswegen kann man, obwohl ja Franzosen nicht so am Gesetz kleben wie herkömmliche Preußen, in Paris ziemlich entspannt auf den Boulevards flanieren", sagt Stimpel.
Sendung: rbb24 Inforadio, 13.11.2023, 13 Uhr
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