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Video: rbb24 Abendschau | 28.12.2023 | Tobias Schmutzler | Quelle: picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Meinung | Das schwarz-rote Jahr 2023 in Berlin

Regierender Raucher auf dem Rathausbalkon

Das landespolitische Jahr in Berlin war geprägt von kurzem Wahlkampf, straffen Koalitionsverhandlungen und einem neuen CDU-geführten Senat. Vor allem die Performance des neuen Regierenden Bürgermeisters überraschte dabei, bilanziert Thorsten Gabriel.

Als ich Kai Wegner im Mai, kurz nach seinem Amtsantritt begegnete, erlebte ich ihn als kleinen Jungen, der selbst noch nicht so recht zu glauben schien, dass er es tatsächlich geschafft hatte: Bürgermeister - ich? Wie krass ist das denn?! Auch wenn damals das Jahresende noch nicht in Sicht war, kam mir unwillkürlich Hugh Grants legendäre Tanzeinlage aus dem Weihnachtsklassiker "Tatsächlich … Liebe" in den Sinn: Als frisch gewählter britischer Premierminister tanzt Grant zu den Pointer Sisters ("Jump! Jump for my Love!") [youtube.com] durch Downing Street Nr. 10.

Ob Kai Wegner wohl auch …? Großes Kopfkino! Im abendlich verlassenen Roten Rathaus legt der frisch gebackene Regierungschef eine flotte Solo-Sohle aufs historische Parkett und fegt quer durch Fest-, Wappen- und Säulensaal. Wer Wegner den Grantschen Hüftschwung nicht zutraut, kann sich übrigens im Netz anschauen [twitter.com], wozu der Mann fähig ist: Man nehme drei Regierungschefs (Daniel Günther, Schleswig-Holstein, Hendrik Wüst, NRW, und eben Wegner), einen Ballermann-Hit und ab geht die Party.

Haushalts-Debatte im Abgeordnetenhaus

"Kluges Konsolidieren" oder nur "Wegners warme Worte"?

Der Berliner Doppel-Haushalt ist beschlossen. Mit 80 Milliarden Euro wird 2024 und 2025 so viel Geld ausgegeben wie noch nie. In der Debatte im Abgeordnetenhaus wurde aber auch deutlich, dass es finanziell so nicht weitergehen kann. Von Jan Menzel

Wegner zeigt sich im Regiermodus als Teamspieler

Aber auch jetzt, acht Monate nach Amtsantritt, gibt sich der CDU-Politiker noch immer begeistert wie am ersten Tag - und energiegeladen wie das Duracell-Häschen. Fast schon ein bisschen unheimlich, denn diese acht Monate waren für Wegner kein Spaziergang durch das landespolitische Berlin. Dass er Bürgermeister "kann", hatten ihm angesichts mangelnder Verwaltungserfahrung vorher nur wenige zugetraut. Jetzt stellen es nicht mal seine politischen Gegner in Frage. Wegner kann führen und zeigt sich im Regiermodus als Teamspieler über Partei- und sogar Regierungsgrenzen hinweg.

Ja, das ist ganz schön viel Lobhudelei am Jahresende. Natürlich könnte man auch mahnend-kritische Worte loswerden, etwa zur mindestens kommunikativ verunglückten Radverkehrspolitik, zu den weiterhin rar gesäten freien Terminen auf den Bürgerämtern, zu dem Desaster um die elektronische Akte und vor allem natürlich zur riskanten Haushaltspolitik. Aber zum Gesamtbild gehört auch, festzustellen, dass diese Regierung "funktioniert" - was keine Selbstverständlichkeit ist, wie der Blick auf die Ampelkoalition im Bund zeigt.

Kommentar | Wegners erste Monate im Amt

100 Tage Multivitaminsaft

Versprochen hat die schwarz-rote Koalition "das Beste für Berlin". Nach gut drei Monaten lässt sich festhalten: Ein konservativer "Rollback" war es schon mal nicht - aber auch kein visionärer Neuanfang, kommentiert Sebastian Schöbel.

Loyalität der SPD gegenüber der CDU ist nicht selbstverständlich

Dass es im Senat erstaunlich rund läuft, hat - auch, aber nicht nur - mit Wegners Führungsqualitäten zu tun. Ihm ist anzurechnen, dass er sich als Person nie in den Vordergrund drängt und vor allem der Koalitionspartnerin SPD Luft zum Atmen lässt. Die Stadt erlebt keine Kai-Wegner-Festspiele, im Gegenteil.

Die SPD wiederum geht nach der verlorenen Wahl weitgehend souverän mit ihrer Rolle als Nummer zwei in der Regierung um. Dies überrascht bei einer Partei, die mehr als zwei Jahrzehnte die Nummer eins im Roten Rathaus war ­- und deren Parteispitze es nun mit einer Parteibasis zu tun hat, die in großen Teilen das Bündnis mit der CDU skeptisch bis kritisch sieht oder es sogar ablehnt. Sich da loyal zu zeigen, zeugt durchaus von Haltung und Größe.

Auch Anfang 2024

Noch immer gibt es kaum kurzfristige Termine bei Bürgerämtern in Berlin

Noch in diesem Jahr sollten die Berlinerinnen und Berliner beim Bürgeramt Termine bereits innerhalb von 14 Tagen bekommen. So kündigte es im Sommer Berlins Regierender Kai Wegner (CDU) an. Doch Wegners Ankündigung bleibt weiterhin Vision statt Wirklichkeit.

Abgeordnetenhaus hat Klimawandel erlebt

CDU und SPD haben sich pragmatisches Regieren auf die Fahnen geschrieben. Gezankt wird hinter den Kulissen und nicht auf offener Bühne. Unterschiedliche Ansichten werden zwar vereinzelt benannt (etwa bei der Unterbringung von Geflüchteten am Tempelhofer Feld), aber Konflikte nicht vor Publikum ausgetragen. Es sind Umgangsformen, die die SPD mit Grünen und Linken in den letzten gemeinsamen Regierungsjahren nicht mehr hinbekam. Was bei drei statt zwei Koalitionspartnerinnen aber auch wenig verwundert.

Aber nicht nur in der Regierung, auch im Parlament hat sich in diesen Monaten mit schwarz-roter Mehrheit etwas verändert. Das Berliner Abgeordnetenhaus hat einen Klimawandel erlebt. War es in früheren Jahren oft noch so, dass sich die CDU als Oppositionsfraktion in teils populistischem Gepolter gegen SPD, Grüne und Linke erging, ist die Atmosphäre im Parlament nun sachlicher.

Brandmauer gegen AfD steht

Einzig die AfD schert da aus, ist im Parlament aber isoliert. Seit Monaten fallen ihre Kandidaten bei immer neuen Wahlanläufen durch, wenn es um die Postenbesetzung in Gremien geht. Was von rechter Seite kommt, lassen CDU, SPD, Grüne und Linke vereint abtropfen. Die viel beschworene Brandmauer steht im Landesparlament. Zuweilen kommt dies auch in gemeinsamen Presseerklärungen aller vier Fraktionen - etwa zum Kampf gegen Antisemitismus - zum Ausdruck.

Warum all das erwähnenswert ist? Weil diese neue Souveränität auf Regierungsseite und im Parlament der Demokratie guttut: In der Sache streiten, aber wenn es darauf ankommt, zusammenstehen, über Parteigrenzen hinweg. Das sorgt für Stabilität.

Gemeinsamkeiten bei Klausurtagung

Senat und Bezirke schwören sich auf Verwaltungsreform ein

Die Berliner Verwaltung gehört reformiert. Da sind sich Bezirke und Senat einig und wollen an einem Strang ziehen. Das versicherte man sich zumindest am Samstag auf einer gemeinsamen Klausurtagung - und sprach über Zuständigkeiten und Finanzen.

Verwaltungsreform als Gradmesser für Wegners Qualitäten

Zu den bemerkenswertesten Pressekonferenzen des Jahres 2023 im landespolitischen Berlin zählt in dieser Hinsicht sicher jene vom 30. September. Nach einer siebenstündigen Klausur der Bezirksbürgermeister:innen mit Wegner zur Verwaltungsreform - diesmal soll es der ganz große Wurf werden - wird der Regierende von allen Seiten mit Lob überschüttet, namentlich auch von der grünen Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann aus Friedrichshain-Kreuzberg. Sowas ist selten.

Doch gerade die Verwaltungsreform wird auch zum Gradmesser werden, wie viel Wegners Brückenbauer-Qualitäten am Ende wirklich taugen. Denn ob Senat und Bezirken tatsächlich etwas Großes gelingt, kann nach den Haushaltsberatungen wieder bezweifelt werden. Am Ende nämlich geht es dann doch wieder nur ums Geld und die Frage, wie es verteilt wird - der übliche Eiertanz auf dem politischen Parkett, weitab von den Hüftschwungqualitäten eines Hugh Grant.

Deshalb passt das Bild des tanzenden Premierministers wohl doch nicht so ganz zu Wegner. Treffender ist da schon eher eines, das er selbst ungewollt kreiert hat, nicht wissend, dass er in dieser Pose gefilmt wird: Am Ende der rbb-Reportage "Plötzlich Bürgermeister!" steht er im offenen Hemd auf dem Balkon des Roten Rathauses, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen das Handy. Dem Wegner, der dort raucht, steht die Begeisterung nicht mehr ins Gesicht geschrieben. Eher die Erkenntnis, dass das größte Stück Arbeit noch vor ihm liegt. Und dass auch ein Regierender im Duracell-Häschen-Modus mal eine Atempause braucht.

Sendung: rbb24 Abendschau, 28.12.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Thorsten Gabriel

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