Prävention und Repression
Die Ausschreitungen in der vergangenen Silvesternacht sollen sich nicht wiederholen. Dafür setzt der schwarz-rote Senat in Berlin auf verstärkte Präsenz von Polizei und Justiz – und langfristige Jugendarbeit. Von Wolf Siebert und Angela Ulrich
Pino Müller von "Outreach Pankow" hatte in den letzten Wochen jede Menge zu tun. Der Straßensozialarbeiter und seine vier Kollegen arbeiten an Projekten, um Gewaltausbrüche an Silvester zu verhindern oder mindestens abzuschwächen. Sie gehen auf Jugendliche zu, in Parks, vor U-Bahnhöfen, und sprechen sie an – um eine Beziehung aufzubauen und klarzumachen: Feuerwehrleute, Sanitäterinnen, Polizisten sind keine Gegner.
Es gehe um einen Perspektivwechsel, sagt Müller: "Wie verhalte ich mich angemessen in so einer Nacht, damit ich die Grenzen von anderen Menschen auch wahrnehme und ernst nehme?" Das Team von "Outreach" hat zum Beispiel Fußballturniere zwischen Jugendlichen und Feuerwehrleuten organisiert. Um zu zeigen: es geht miteinander, nicht gegeneinander. Wobei Gewalt gerade dann entsteht, sagt Müller, wenn Jugendliche in einer Sackgasse stecken.
Ohne Ausbildung und Perspektive, wenn sie sich ohnmächtig fühlen – dann hätten sie durch Silvestergewalt sowas wie Macht empfunden: "Dann gibt es eine Art Gruppendynamik, oder ein Gruppengefühl, wenn die Jugendlichen merken, dass sie die Sicherheitskräfte überfordern, dass sie dadurch plötzlich in eine Machtposition kommen – und das euphorisiert sie."
Genau solche "Machtdemonstrationen" will der schwarz-rote Senat bei diesem Jahreswechsel unbedingt verhindern. "Auch in der Silvesternacht werden wie an allen anderen Tagen im Jahr Recht und Gesetz auf Berliner Straßen gelten", hatte der Regierende Bürgermeister, Kai Wegner (CDU), im Oktober angekündigt, nach dem dritten und bisher letzten Gipfel gegen Jugendgewalt. "Und das werden wir auch durchsetzen mit einer starken Polizei." Diese "starke Polizei" bedeutet erstmal, dass deutlich mehr Beamtinnen und Beamte in der Silvesternacht unterwegs sein werden.
Von rund 2.500 Einsatzkräften spricht Polizeipräsidentin Barbara Slowik, im Vergleich zu 1.300 im letzten Jahr. Dazu werden rund 1.000 Beamte in Wachen Dienst schieben und in Funkwagen unterwegs sein. Bundespolizisten und Einsatzkräfte aus anderen Bundesländern werden dabei die Berliner Polizei verstärken. Auch Wegner und Slowik selbst werden in der Silvesternacht mit Einsatzkräften unterwegs sein, um sich ein eigenes Bild der Lage zu machen, heißt es in der Senatskanzlei. "Die Berliner Polizei wird sämtliche Mittel einsetzen, die zur Verfügung stehen", sagt Kai Wegner. "Sie darf alles tun, was gesetzlich möglich ist, um Gewalt zu unterbinden." Gehören dazu auch Wasserwerfer oder ähnliches technisches Gerät, wird Wegner auf der letzten Senatspressekonferenz des Jahres gefragt. "Alles, was erlaubt ist", antwortet der Regierende Bürgermeister.
Auch die Berliner Justiz wird ihr Personal für die Silvesternacht verstärken. Die Staatsanwaltschaft stockt ihren Bereitschaftsdienst auf, ebenso das Amtsgericht Tiergarten. Drei Staatsanwälte sind in nächtlicher Rufbereitschaft, statt bislang einem. So könne auch nachts bereits telefonisch geklärt werden, ob Verdächtige einem Richter vorgeführt werden sollen, heißt es bei der Staatsanwaltschaft.
Neu wird in dieser Silvesternacht ein Richter von 21 bis 4 Uhr früh in Bereitschaft sein, der direkt über Polizeigewahrsam oder ähnliches entscheiden kann. "Damit machen wir deutlich, dass wir es sehr ernst meinen mit konsequenter Rechtsdurchsetzung", sagt der Regierende Bürgermeister. "Wenn Straftaten ausgeübt werden, muss Strafe auch unmittelbar und unverzüglich auf die Tat folgen." Daran will Wegner in dieser Silvesternacht kein Zweifel lassen.
Nach der Silvesterrandale zum vergangenen Jahreswechsel hatte die Berliner Staatsanwaltschaft in 151 Ermittlungsverfahren 89 Verdächtige im Visier. In 75 Verfahren blieben die Täter unbekannt. Die Vorwürfe unter anderem: Brandstiftung, Angriffe auf Beamte, Gewaltdelikte, Verstöße gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz, Sachbeschädigung, Landfriedensbruch. 26 Urteile sind ergangen gegen Silvester-Täter, 82 Ermittlungsverfahren sind eingestellt worden, andere Fälle sind noch offen.
Neben Repression geht es dem schwarz-roten Senat aber auch um Prävention. Rund 90 Millionen Euro sind für Jugendprojekte auf den insgesamt drei Anti-Jugendgewalt-Gipfeln des Senats für dieses und die kommenden beiden Jahre zugesagt worden. Davon waren im Oktober gut 18 Millionen geflossen, hatte damals Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch bilanziert. Unter anderem in 60 zusätzliche Stellen für Schulsozialarbeit, für 15 neue Stadtteilmütter in den Bezirken, für knapp drei dutzend neue Projekte zur Jugendarbeit. Dabei gehe es aber vorrangig darum, "Bewährtes zu stärken", erklärte Polizeipräsidentin Slowik nach dem dritten Jugendgipfel.
Ähnlich sieht das Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel. Jugendgewalt sei kein neues Phänomen, sondern durch die Silvestergewalt des letzten Jahreswechsels nur besonders deutlich hervorgetreten, erklärte der SPD-Politiker nach dem letzten Jugendgipfel. Dagegen helfen keine kurzfristigen Projekte, "die wie Raketen in die Luft fliegen, kurz leuchten, und dann wieder verpuffen". Stattdessen brauche es langfristige Arbeit, die wie eine dauerhafte Beleuchtung sei, meinte Hikel.
Grünen-Innenpolitiker Vasili Franco übt scharfe Kritik am Senat: Gemeinsam mit der Bundesinnenministerin hätte man auf ein Böllerverbot hinwirken sollen. Die aktuell geltenden drei Böllerverbotszonen in Berlin seien viel zu wenig. "Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen, jetzt hilft nur sehr schlechtes Wetter und viel Regen gegen Silvestergewalt", meint Franco.
Auch Pino Müller von "Outreach Pankow" warnt vor überzogenen Erwartungen nach den Jugendgipfeln. Kurzfristige Präventionsprojekte seien nicht der Zauberstab, der es Jugendlichen ermögliche, mit Ohnmachtsgefühlen konstruktiv umzugehen – dafür brauche es langfristige Projekte. Davon ist auch Kazim Erdogan überzeugt. Vor 17 Jahren hat der Psychologe den Verein "Aufbruch Neukölln" gegründet und Gesprächsgruppen für Männer mit Migrationshintergrund gestartet. Es geht darum, traditionelle Männer- und Väterrollen zu überwinden. Das bedeutet auch, sich aktiv in die Erziehungsarbeit einzubringen. Vielen Jugendlichen fehlten die väterlichen Vorbilder, sagt Erdogan.
In einem neuen Projekt mit Vätern will er dieses Problem angehen – auch in Moschee-Vereinen und Flüchtlingseinrichtungen. "Eine Bildung und Erziehung ohne Väter ist Bildung und Erziehung auf einem Bein. Und deshalb brauchen wir Väter als Vorbilder im wahrsten Sinne des Wortes." Auch in Sekundarschulen will Erdogan aktiv werden, wo viele Jugendliche mit Migrationshintergrund auf der Suche nach Identität seien – "Wer bin ich eigentlich?". Mit ihnen zusammen will Kazim Erdogan arbeiten, nicht über ihre Köpfe hinweg. Identität, Erziehung, Perspektiven – ein langer Weg zur Gewaltprävention. Nicht nur zu Silvester.
Sendung: rbb24 Inforadio, 29.12.2023, 07:50 Uhr
Beitrag von Wolf Siebert und Angela Ulrich
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