Hyperinflation 1923
Im Advent 1923 knurrte vielen Berlinern der Magen: Essen war teuer. Auf den Märkten oder am Schlacht- und Viehhof sollte die Wucherpolizei der Preisanarchie Einhalt gebieten. Um die Weihnachtszeit traten sie fast täglich auf den Plan. Von Matthias Schirmer
Die Weihnachtszeit 1923 fühlte sich für viele Berliner gar nicht gut an: Durch die Hyperinflation und den staatlich verordneten "passiven Widerstand" gegen die französische Besetzung im Ruhrgebiet war die Arbeitslosigkeit deutschlandweit auf über 4 Millionen hochgeschossen. Eine gewaltige Entlassungswelle erfasste nun noch fast 400.000 Staatsangestellte: Unzählige kleine Beamte, vor allem Beamtinnen, wurden im Dezember auf die Straße gesetzt. Denn der Staat musste Personalkosten sparen.
In Deutschland wurde gehungert. Das Internationale Rote Kreuz rief seine Mitgliedsorganisationen zu Hilfslieferungen auf, aus Österreich wurden 50.000 Lebensmittelpakete über die Grenze geschickt. Essen war Mangelware. Wenige Wochen vorher waren viele Berliner aufs Land gefahren und hatten darum gebettelt, nach der Kartoffelernte auf den Felder nach Resten "stoppeln" zu dürfen.
Lebensmittel waren bereits seit 1914 knapp. Gründe waren sowohl niedrige Produktionszahlen als auch künstlich verlängerte Lieferketten: Viele Zwischenhändler versuchten durch Schiebereien und Leerverkäufe aus dem Mangel Profit zu schlagen. Die Folge: endlose Schlangen auf Märkten und vor Geschäften und immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen an der Verkaufstheke.
Der Staat hatte seit 1914 versucht, den Lebensmittelmarkt mit verordneten Höchstpreis-Grenzen zu regulieren. Dazu hatte er eine interessante Konstruktion geschaffen: die "Preisfestsetzungs-Kommissionen". Der Wirtschaftshistoriker und Journalist Frank Stocker erklärt es so: "Für einzelne Bereiche, beispielsweise für die Milchwirtschaft, oder für die Fleischwirtschaft wurden Kommissionen gebildet, in denen ein Vertreter der jeweiligen Läden oder Händler saß, etwa Fleischer, Milchverkäufer.
Aber auch Gewerkschaftsvertreter und auch Hausfrauen, also Menschen aus dem Volk, die die Verbraucher repräsentieren sollten. Diese Preis-Überwachungskommissionen haben Höchstpreise festgelegt, die verlangt werden konnten. Und die Wucherpolizei wiederum hat sie dann auf den Wochenmärkten und in den Läden kontrolliert und durchgesetzt."
Weihnachten 1923 trat diese Spezialeinheit der Staatsmacht nahezu täglich auf den Plan. Sie stammte aus der Kriegszeit, doch Gründung und Entwicklung der Wucherpolizei sind bis heute so gut wie gar nicht historisch erforscht. Mehrfach wechselte ihre Anbindung an Reichsministerien. Ihre Personalstärke schwankte stark.
1923 – fünf Jahre nach Kriegsende – war die Wucherpolizei eigentlich zu einer kleinen Einheit im Berliner Polizeiapparat geschrumpft. Die "Abteilung W" saß mit ihren 21 Mitarbeitenden nicht in der berühmten "Burg", dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz, sondern in der Magazinstraße 3.
Während des Krieges konnte Wucherei mit einer Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr, Geldstrafen und dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte gerichtlich geahndet werden. Hinzu kam als Strafe das Betätigungsverbot im Handel.
In der Praxis beschränkten sich die unmittelbar wirksamen Zwangsmittel der Wucherpolizei jedoch vor allem auf die Beschlagnahmung von Wucherwaren. Die Lebensmittel wurden dann an soziale Einrichtungen wie Notquartiere und Armenspeisungen abgegeben. Meist erstattete die "Abteilung W" einfach nur Anzeige gegen Groß-, Klein- oder Zwischenhändler bei der Staatsanwaltschaft.
Auffällig ist, dass die Berliner Wucherpolizei besonders häufig in den drei Wochen vor Weihnachten 1923 in der Presse erwähnt wird. So meldet etwa das Berliner Tageblatt am Nikolaustag: "Die Verhandlungen der Wucherpolizei mit dem Zweckverband der Bäckermeister Groß-Berlins haben gestern zu einer neuen Senkung des Brotpreises geführt. Der Preis der Schrippe ist unverändert."
Spektakulär war der Einsatz der Wucherpolizei am 12. Dezember auf dem Zentralvieh- und Schlachthof an der Landsberger Allee. Dort marschierte die "Abteilung W" in den frühen Morgenstunden auf. Gemeinsam mit uniformierter Schutzpolizei und Kriminalbeamten der Reviere besetzte sie sämtliche Verkaufsstellen und Fleisch-Waagen.
Insbesondere die Fleischgroßhändler lieferten sich mit den Beamten der Wucherpolizei tumultartige Szenen. Der Wirtschaftshistoriker Frank Stocker meint, mit der drastischen Senkung der Fleischpreise habe der Staat gezielt breiteren Bevölkerungsschichten den Weihnachtsbraten ermöglichen wollen. Die Händler jedoch hätten sich dagegen gewehrt und gedroht, ihr Vieh wieder dem Markt zu entziehen und durch ein künstlich verringertes Angebot die Preise nach oben zu treiben. "Darauf hat der Chef der Wucherpolizei gedroht, den gesamten Viehbestand zu beschlagnahmen. Und dann haben sie sich beim Preis irgendwo in der Mitte getroffen."
Ein wichtiger Grund für die vorweihnachtliche "Preisanarchie" bei Lebensmitteln war auch die Währungsreform, die Anfang Dezember 1923 erst zwei Wochen zurücklag. Seit dem 15. November gab es die neue Rentenmark. Diese entsprach einer Goldmark der Vorkriegszeit und gleichzeitig einer Billion Papiermark. Das Billionen-Geld blieb jedoch weiter im Umlauf, und die Papiermark war auch das einzige offizielle Zahlungsmittel in Deutschland. Doch mit der parallel geltenden Rentenmark war die Inflation gestoppt worden. Statt durch staatliche Goldreserven war sie durch zwangsgepfändete Immobilien gedeckt, für die die Besitzer im Gegenzug festverzinste Pfandbriefe, sogenannte Rentenbriefe vom Staat bekamen. Die neue Parallelwährung galt nun zum festen Wechselkurs und stabilisierte die Lage so schnell, dass auch vom "Wunder der Rentenmark" die Rede war.
Die Folge: Die Preise begannen im Dezember 1923 deutlich zu sinken. Doch einige Händler wollten in dieser Übergangszeit weiterhin mit Lebensmitteln hohe Spekulations-Gewinne realisieren. So bekam die Wucherpolizei noch einmal für einige Wochen Bedeutung
Für den Wirtschaftsjournalisten Stocker waren die Weihnachtseinsätze der Wucherpolizei vor 100 Jahren aber auch politische Augenwischerei: Der Staat habe die Gründe der wirtschaftlichen Misere den Wucherern zuschieben und mit der Polizei Aktionismus zeigen wollen. Eigentlich, sagt Stocker, hätten sie zugeben müssen, dass die Hyperinflation auf staatliches Missmanagement zurückzuführen war: auf ein Jahr mit ständig ungedeckten Krediten der Reichsbank an den Staat. Der hatte seit Januar 1923 damit unter anderem den passiven Widerstand im Ruhrgebiet gegen die französische und belgische Militärbesatzung finanziert. Denn dort hatten Beamte und Angestellte auf Wunsch des Staates die Arbeit eingestellt und waren stattdessen auf Staatskosten alimentiert worden.
So nahm auch die Bedeutung der Wucherpolizei bald wieder ab. Trotz gesetzlicher Vorgaben hatte sie weder während des Ersten Weltkriegs noch in der Hyperinflation des Jahres 1923 den aus den Fugen geratenen Lebensmittel Markt wirksam bändigen können. Entsprechend nüchtern blickten die beiden langjährigen Führungskräfte der Wucherpolizei, die Juristen Julius Hirsch und Carl Falck drei Jahre später auf diese "Blütezeit" zurück: Der Fachabteilung seien "kaum" lösbare Aufgaben und viel unfruchtbare Arbeit" übertragen worden.
Sendung: rbb24 Inforadio, 22.12.2023, Podcastserie "Heute minus 100"
Beitrag von Matthias Schirmer
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