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Video: rbb24 Abendschau | 27.01.2024 | Quelle: DPA/Fabian Sommer

Tag des Gedenkens an Opfer des Nationalsozialismus

Erinnern ohne Zeitzeugen

Bogdan Bartnikowski hat als Kind die Konzentrationslager Auschwitz und Sachsenhausen überlebt. Zeitzeugen wie ihn gibt es immer weniger. Die Arbeit in den Gedenkstätten verändert sich dadurch deutlich. Von Oliver Noffke

Bogdan Bartnikowski kommt nicht gern zurück an die Orte, die seine Kindheit geprägt haben. Er tut es trotzdem. Es gehe gar nicht anders, sagt der 92-Jährige. "Von allein würde ich diese Orte auf keinen Fall besuchen. Aber ich fühle mich verpflichtet, jüngeren Generationen meine Geschichte zu erzählen." Bartnikowski hat das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt und musste im KZ Sachsenhausen bei Oranienburg (Oberhavel) Zwangsarbeit leisten.

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"Mutti, wir haben überlebt"

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Sein Leben danach hat er der Erinnerung an die Gräueltaten der Nationalsozialisten gewidmet. Als Journalist hat er gegen das Vergessen geschrieben. Über die Jahrzehnte sind so mehr als zwei Dutzend Bücher entstanden. Noch immer hält er nicht still, sondern spricht, so oft es geht, über seine Kindheitserlebnisse, das Elend und die Gewalt in den Lagern. Bei Lesungen, vor Schulklassen und vor Ort. Auch in diesem Jahr wird Bartnikowski wieder zu Gedenkveranstaltungen reisen, erst nach Auschwitz und am Montag weiter nach Oranienburg.

Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit. Vor 79 Jahren. Es gibt nicht mehr viele Menschen, von denen man aus erster Hand erfahren kann, wie die Todesmaschinerie der Nazis funktionierte. "Mir ist bewusst, dass es nur noch sehr wenige KZ-Überlebende gibt, die noch eingermaßen fit sind und von ihren Erfahrungen berichten können."

Das Verschwinden der Zeitzeugen wird Realität

"Die Sorge um das Schwinden der Zeitzeugen ist so alt wie die Nachkriegszeit", sagt Andrea Genest. Sie leitet die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück (Oberhavel). "Aber natürlich wird es jetzt langsam real. Die Zeitzeugen sind mittlerweile Mitte, Ende 90 und es stehen uns nicht mehr sehr viele für Gespräche zur Verfügung."

Die Erinnerung an einige der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte wach zu halten, stellt den Kern von Genests Beruf dar. Sie selbst habe angefangen, sich intensiver mit den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust zu beschäftigen, nachdem sie als Schülerin die Möglichkeit gehabt hatte, mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu sprechen, sagt sie.

Bis vor einigen Jahren organisierte die Gedenkstätte Ravensbrück eine Art Kurzzeit-WGs in einer angeschlossenen Begegnungsstätte. Schulklassen und Überlebende konnten tagsüber gemeinsam Zeit bei Workshops oder Rundgänge verbringen, abends wurde gemeinsam gegessen. Dabei ergaben sich jede Menge Möglichkeiten für die Jugendlichen, um immer wieder nachzufragen: Wie war das damals eigentlich genau?

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Digital sichtbar machen, was nicht wieder aufgebaut werden sollte

Mittlerweile gibt es das Programm nicht mehr. "Leider", wie Genest sagt. Heute ist so ein Vollprogramm an Erinnerungsarbeit für die Überlebenden einfach zu anstrengend. Wie viele andere Gedenkstätten oder Museen auch, stemmt sich Ravensbrück mit einer Reihe von digitalen Angeboten gegen das Vergessen.

Zum einen existiert eine Vielzahl von Interviews in internationalen Archiven wie etwa der Shoah Visual History Foundation. Eine gemeinnützige Organisation, die 1994 von US-Regisseur Steven Spielberg ("Schindlers Liste") gegründet wurde und weltweit Schilderungen von Holocaust-Überlebenden als Videos festgehalten hat. Für die Arbeit mit Schulklassen seien solche Quellen heute ein wesentliches Element, erklärt Genest.

Sie hofft, dass digitale Medien künftig noch direkter mit der Gedenkstätte verknüpft werden können. "Wenn früher Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ihre Geschichte vor Ort erzählt haben, dann können wir das jetzt vielleicht mit einem guten Format im Augmented-Reality-Bereich auch tun." Dann wäre es zum Beispiel möglich, aufgezeichnete Erzählungen auf dem Smartphone oder Tablet an den Orten wiederzugeben, über die gesprochen wird. Oder es werden Gebäude auf den Bildschirmen als Animation sichtbar, die längst nicht mehr existieren. "Es verbietet sich, in einer Gedenkstätte Dinge wieder aufzubauen. Deswegen sind digitale Formen ein ganz wesentliches Element, um genau diesen Eindruck zu vermitteln", sagt Genest.

"Geschichte wiederholt sich nicht. Aber ..."

Es sei die Aufgabe der historischen Forschung, der Gesellschaft zu verdeutlichen, wenn Ereignisse aus der Zeit des Nationalsozialismus mit heutigen vergleichbar sind, sagt Politikwissenschaftlerin Genest. "Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es gibt Dinge, die sind strukturell vergleichbar. Wenn 1933 durch die NSDAP versucht wurde, mit demokratischen Mitteln undemokratische Ziele zu verfolgen, dann finden wir diese Versuche heute wieder."

Zur Person

Die Erinnerung wird nicht mit den Zeitzeugen aussterben, da sind sich viele Historiker:innen einig. Es wird Wege geben, anders mit den Schicksalen NS-Verfolgter umzugehen. Die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt am Main hat etwa reale Interviews mit Überlebenden mit einer künstlichen Intelligenz verknüpft. So ist es möglich, dass Besucher und Besucherinnen Fragen stellen und eine authentische Antwort erhalten [hessenschau.de].

Neue Wege zu suchen, um Wissen zu vermitteln, sei nun eine zentrale Aufgabe von ihr und ihren Kolleg:innen, sagt Genest. Aber nicht alles werden sie mit gleicher Autorität ersetzen können. "Ich glaube, die wesentliche Rolle von Zeitzeugen war, dass sie ein ganz wesentliches moralisches Element in der Gesellschaft waren. Man konnte an ihnen nicht vorbeigehen", sagt sie. "Und damit waren sie ganz wesentlich darin, dass an den Nationalsozialismus erinnert wird und dass Gedenktage ernstgenommen werden. Diese moralische Unterstützung verlieren wir gerade."

Die Fragen haben sich verändert

Seit 1996 ist der 27. Januar offizieller Gedenktag an die verfolgten und ermordeten Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma, körperlich oder geistig behinderten Menschen und andere, die Opfer der deutschen Faschisten unter Adolf Hitler wurden. Dass es diesen Tag gibt, ist auch dem unnachgiebigen Mahnen von Menschen wie Bogdan Bartnikowski zu verdanken.

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"Mein Ziel ist, junge Menschen zum Nachdenken anzuspornen." Im Laufe der Zeit habe er festgestellt, dass sich die Fragen verändert haben. "In Deutschland fragen mich Jugendliche heutzutage oft, wie mein Leben nach dem Krieg ausgesehen hat. Wie ich ins normale Leben zurückkehren konnte?" Ihm gefallen solche Gespräche sehr, sagt er. Es klingt, als fühle er dadurch auch etwas Anerkennung für die vielen Jahre, in denen er gegen Widerstände und das Vergessen ankämpfen musste.

Bartnikowski hofft, dass sich andere durch seine Worte in das Schicksal von denen einfühlen können, die unter Kriegen oder bewaffneten Konflikten leiden. "In der Tat sind diese Begegnungen nicht leicht für mich", so der 92-Jährige. Er fühle sich aber nunmal der Erinnerung verpflichtet. "Ich hoffe, dass meine Geschichte ergänzt, was sie in den Schulen gelernt haben. Dass sie überlegen, wie sie sich dem entgegenstellen können", sagt Bartnikowski. "Ich freue mich riesig, dass es noch junge Menschen gibt, die mich hören wollen."

Sendung: rbb24 Abendschau, 27.01.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Oliver Noffke

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