Nach Teil-Legalisierung
Wer vor dem 1. April wegen Cannabis-Delikten verurteilt worden ist, kommt nun für eine Amnestie infrage: Denn die Justiz muss Verurteilte nach der Teil-Legalisierung so behandeln, als hätten sie die Tat nie begangen. Das bedeutet mehr Arbeit als gedacht.
Auf die Berliner und Brandenburger Justizbehörden kommt wegen der Teil-Legalisierung von Cannabis weit mehr Arbeit zu, als zunächst geschätzt: Die Staatsanwaltschaften in beiden Bundesländern korrigierten die Zahl der nachträglich zu prüfenden Strafverfahren nach oben. Alle Verfahren in Verbindung mit Cannabis, die nach dem neuen Gesetz nicht geahndet worden wären, müssen nochmals genau untersucht werden. Laut Berliner Staatsanwaltschaft kommt bei etwa 10 bis 15 Prozent eine Neufestsetzung der Strafe oder ein Straferlass infrage.
In Berlin geht es laut der Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos) nach jetzigem Stand um insgesamt etwa 6.000 Verfahren, die von der Teil-Legalisierung seit dem 1. April berührt sein könnten. Ein Berliner Rechtspfleger, der mit dem Bereich befasst ist, bestätigte diese Zahl rbb|24 auf Anfrage. Bis zum 28. März habe man rund 3.200 Verfahren prüfen müssen, bei denen es um Freiheitsstrafen oder Ersatzfreiheitsstrafen gegangen sei. Letztere werden verhängt, wenn ein Verurteilter eine Geldstrafe nicht zahlen kann. Nun müssten zeitnah rund 2.500 Verfahren kontrolliert werden, bei denen eine Geldstrafe vollstreckt wird. Hinzu kämen noch 200 andere Entscheidungen. Etwa 60 Prozent der Fälle sind bislang laut Staatsanwaltschaft abgearbeitet.
Laut deren Sprecherin ist in Berlin bisher ein Häftling infolge des neuen Gesetzes entlassen worden. Er habe wegen schweren Raubes und dem Besitz "nicht geringer Mengen Cannabis" im Gefängnis gesessen, sagte die Sprecherin der Deutschen Presse-Agentur am Freitag. Konkret ging es demzufolge um 23 Gramm Gras. Der Mann hätte seine Freiheitsstrafe bald abgesessen.
Wer wie in diesem Fall mit höchstens 25 Gramm von der Polizei erwischt wurde, den muss die Justiz nun so behandeln, als habe es diese Tat nie gegeben. Bereits verhängte Haft- oder Geldstrafen wegen Delikten, die nach dem Gesetz in Zukunft nicht mehr strafbar sind, sollen nun erlassen, eingetragene Verurteilungen aus dem Bundeszentralregister gelöscht werden. Der Besitz größerer Mengen Cannabis oder der Handel damit sind von der Amnestie nicht berührt, weil sie nach wie vor strafbar sind.
Die Berliner Staatsanwaltschaft habe sich seit Wochen auf die seit Anfang April geltende Neuregelung vorbereitet und werde sich auch in den nächsten Wochen damit beschäftigen, sagte die Justizsenatorin am Mittwoch in der rbb|24-Abendschau. "Wir sind ja mit der Prüfung gar nicht fertig", so Badenberg weiter.
Wenn es am Ende so sein sollte, dass in 10 bis 15 Prozent der Fälle etwa eine neue Gesamtstrafe zu bilden sei, müsse die Staatsanwaltschaft dafür einen Antrag ans Gericht stellen. "Das Gericht muss der betroffenen Person die Möglichkeit der Anhörung einräumen", so die Justizsenatorin. "Und sollte es beispielsweise so sein, dass die Anschrift der Person nicht bekannt ist, müssen dann noch die Ermittlungsstellen tätig werden." Hat der Richter eine neue Gesamtstrafe festgesetzt, müsse dieser Beschluss zugestellt werden. "So ganz einfach ist das nicht", fasste Badenberg die Situation zusammen.
Kritiker wie die als liberal geltende "Neue Richter:innenvereinigung" wenden ein: Die Justiz sei nicht von dem Gesetz überrumpelt worden. Der Bundesrat habe sich schon im vergangenen September mit dem Gesetzentwurf beschäftigt. "Es wäre also möglich - und geboten gewesen, Vorkehrungen für den Gesetzeserlass zu treffen." Auch die fehlende Digitalisierung erhöht den Arbeitsaufwand der Berliner Justiz enorm: Weil die Justizverwaltung hier noch nicht wesentlich vorangekommen ist, müssen alle Akten auf Papier durchgearbeitet werden.
In Brandenburg werden insgesamt 4.000 Urteile geprüft - davon 3.600 im Erwachsenenstrafrecht und weitere 400 im Jugendstrafrecht. Das teilte ein Sprecher des Brandenburgischen Justizministeriums dem rbb auf Anfrage mit. Die Überprüfungen hätten bereits begonnen - zunächst mit Verfahren, in denen eine noch laufende Haftstrafe verhängt wurde. Vier Personen seien bislang aus der Haft entlassen worden, in zwei weiteren Fällen verblieben die Betroffenen im Strafvollzug, weil die Amnestieregelung keine Anwendung gefunden habe, so der Sprecher.
Die Prüfungen stellen laut Justizministerium eine hohe Belastung für die Staatsanwaltschaften dar. Sie würden Personal "in erheblichem Umfang" binden, das für die Bekämpfung der Kriminalität in dieser Zeit nicht zur Verfügung stünde. Wann die Prüfungen abgeschlossen seien, sei nicht absehbar. Die besondere Herausforderung bestehe darin, dass jedes einzelne Verfahren dahingehend überprüft werden müsse, ob die verfolgten Delikte nach neuer Rechtslage noch strafbar seien.
Abgesehen von der Menge der Verfahren gibt es noch offene juristische Fragen, sagt ein Berliner Rechtspfleger rbb|24. "Ein Beispiel: Ein Täter wurde wegen einer früheren Straftat auf Bewährung verurteilt. Nun wurde er mit Cannabis erwischt, der Straftatbestand wäre also Besitz von Betäubungsmitteln - und aufgrund der neuen Straftat wurde die Bewährung widerrufen und er muss ins Gefängnis. Durch die Gesetzesänderung muss er aber nun so gestellt werden, als hätte es die neueste Verurteilung nie gegeben. Was ist dann mit seiner bereits teilweise verbüßten Freiheitsstrafe?", sagt der Rechtspfleger.
Oft würden auch sogenannte nachträgliche Gesamtstrafen wegen mehrerer Delikte gebildet. Wenn nun die nachträgliche Amnestie kommt, müssten diese nachträglichen Strafen wieder irgendwie aufgedröselt werden. Der Sprecher des Brandenburger Justizministeriums sagt dem rbb ebenfalls, Fälle einer solchen "Mischverurteilung", in denen die Strafe auch wegen weiterhin strafbarer Delikte verhängt worden ist, seien besonders schwierig.
Auch die nachträgliche Streichung von Verurteilten aus dem Bundeszentralregister dürfte großen bürokratischen Aufwand bedeuten. Solche Einträge von Verurteilten haben bedeutende Auswirkungen, zum Beispiel auf das polizeiliche Führungszeugnis und damit potentiell auf künftige Arbeitsstellen. Nun muss die Justiz bei jedem einzelnen Fall prüfen, ob es gerechtfertigt ist, den Eintrag eines Verurteilten wirklich wieder zu löschen. Auf der anderen Seite werden Polizei und Justiz nun von den vielen Kleinstverfahren entlastet, die zuvor auch wegen geringer Mengen Cannabis routinemäßig eingeleitet worden waren.
- Im öffentlichen Raum ist der Besitz von bis zu 25 Gramm Cannabis zum Eigenkonsum für Erwachsene künftig legal
- In der privaten Wohnung können bis zu 50 Gramm aufbewahrt werden, für Heranwachsende (18-21 Jahre) gilt eine Obergrenze von 30 Gramm
- Der private Anbau von bis zu drei Cannabis-Pflanzen zum Eigenkonsum ist für Erwachsene mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland erlaubt; die Anzahl von drei Pflanzen gilt je volljähriger Person eines Haushalts
- Cannabis aus privatem Eigenanbau darf nicht an Dritte weitergegeben werden. Der Handel mit Cannabis bleibt kategorisch verboten
- Bars, Clubs und Kneipen dürfen den Umgang mit Cannabis-Konsum in ihren Räumen selber regeln. In öffentlichen Sportstätten wie beispielsweise Freibädern ist der Konsum verboten (siehe auch Jugendschutz).
- Der gemeinschaftliche, nicht-gewerbliche Eigenanbau zum Eigenkonsum in Anbauvereinigungen (sog. "Cannabis Social Clubs") mit maximal 500 Mitgliedern ist ab 1. Juli 2024 erlaubt; die Mitglieder müssen volljährig sein und ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben
- Für Anbau und Weitergabe von Cannabis an die Mitglieder zum Eigenkonsum wird eine behördliche Erlaubnis benötigt
- Die Weitergabe von Cannabis darf nur in Reinform erfolgen und soll für Mitglieder auf 25 Gramm pro Tag und 50 Gramm pro Monat beschränkt werden; die Abgabe an Heranwachsende zw. 18 und 21 Jahren wird auf 30 Gramm pro Monat begrenzt, der THC-Gehalt darf hier maximal 10 Prozent betragen
- Der Konsum in Vereinsräumen ist verboten
- Es dürfen maximal sieben Cannabissamen oder fünf Stecklinge pro Monat für den Eigenanbau an ein Mitglied abgegeben werden
- Die gleichzeitige Mitgliedschaft in mehreren Vereinigungen ist verboten
- Die Zahl der Vereinigungen kann durch die Landesregierungen auf eine je 6.000 Einwohner pro Kreis oder kreisfreier Stadt begrenzt werden
- Offizielle Verkaufsstellen wie die in den Niederlanden geduldeten, aber formal illegalen "Coffeeshops" wird es nicht geben, sie sind mit EU-Recht nicht vereinbar
- Erwerb, Besitz und Konsum von Cannabis bleibt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren verboten
- Privat angebautes Cannabis muss vor dem Zugriff durch Kinder und Jugendliche sowie Dritte geschützt werden
- Werbung und Sponsoring für den Cannabiskonsum sowie für Anbauvereinigungen sind verboten
- Der Konsum von Cannabis ist in Fußgängerzonen zwischen 7 und 20 Uhr verboten, sowie in und in Sichtweite vom Eingangsbereich von Anbauvereinigungen, Schulen, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Kinderspielplätzen sowie in öffentlich zugänglichen Sportstätten wie Schwimmbädern
- Für die Definition von Sichtweite gilt ein Abstand von 100 Metern, darüberhinaus ist der Konsum sicher gestattet
- Die Prävention soll gestärkt werden, u.a. durch Präventionsmaßnahmen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sowie in den Anbauvereinigungen
- Eine im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums eingesetzte Expertenkommission schlägt einen Grenzwert von 3,5 Nanogramm THC pro Milliliter Blutserum hinterm Steuer vor. Dieser sei in etwa vergleichbar mit einem Blutalkoholwert von 0,2 Promille
- Mischkonsum von Alkohol und Cannabis soll für Verkehrsteilnehmer grundsätzlich verboten sein: wer also gekifft hat, für den gelten 0,0 Promille
- Diese Regelung muss erst noch im Gesetz festgeschrieben werden
- Begangene Cannabis-Delikte, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes strafbar waren, aber seit dem 1. April erlaubt sind, müssen von der Justiz überprüft werden. Sind diese Delikte es nach neuer Regelung nicht mehr, gilt in den meisten Fällen eine Amnestieregelung. Die Justiz muss diese Urteile dann so behandeln, als sei das Cannabis-Delikt nicht begangen worden
- Der Besitz größerer Mengen Cannabis als 50 Gramm zuhause oder 25 Gramm in der Öffentlichkeit sowie der Handel mit Cannabis sind von dieser Amnestieregelung nicht betroffen - und bleibt strafbar
Sendung: Antenne Brandenburg, 04.04.2024, 14 Uhr
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