Wahl zu Berliner Parteispitze
Co-Landeschef Raed Saleh landet mit Teampartnerin Luise Lehmann beim Mitgliederentscheid nur auf Platz drei. Ein Debakel für den Strippenzieher in der Berliner SPD. Nun müssen die Parteimitglieder zwischen zwei sehr unterschiedlichen Duos wählen. Von Angela Ulrich
Es ist nicht einfach eine dieser Niederlagen, die halt vorkommen in einem langen Politikerleben. Es ist eine Klatsche, ein Debakel für Raed Saleh. Der Strippenzieher, der starke Mann der Berliner SPD, Fraktionschef seit 2011 und seit dreieinhalb Jahren auch Co-Landeschef der Berliner Sozialdemokraten neben Franziska Giffey wird abgestraft von den Parteimitgliedern beim Rennen um einen neuen Landesvorsitz.
Nur 1.309 von 8.363 gültigen Stimmen, also gerade mal 15,65 Prozent, haben Saleh und seine Teampartnerin Luise Lehmann bekommen. Und das lag weniger an der Unbekanntheit der 27-jährigen Bezirkspolitikerin und Ärztin aus Marzahn-Hellersdorf. Es lag daran, dass offensichtlich viel mehr Genossinnen und Genossen tatsächlich mit dem Erfahrenen, dem Lenker an der Spitze von Fraktion und Partei, nicht mehr zufrieden waren. Sie wollen einen Neuanfang – aber in welche Richtung der gehen könnte, ist nach Runde eins des Mitgliederentscheids noch unklar.
Saleh selbst äußerte sich erstmal nicht nach dem Wahldebakel. Weder er noch Luise Lehmann sind dabei, als Noch-Parteichefin Franziska Giffey im Kurt-Schuhmacher-Haus im Wedding das Ergebnis des SPD-Mitgliederentscheids bekannt gibt. Giffey ringt zunächst sichtlich um Fassung. Es ist auch für ihre Vorsitz-Arbeit kein gutes Zeugnis, wenn die große Mehrheit der SPD-Mitglieder neue Gesichter an der Parteispitze sehen will – auch wenn Giffey selbst nicht mehr angetreten war.
"Ich glaube, wir haben jetzt die Entscheidung zwischen sehr klaren Profilen", sagt Giffey, und meint die verbleibenden Kandidaten-Duos für die Stichwahl: Da sind die Parteirechten Martin Hikel und Nicola Böcker-Giannini – der Neuköllner Bezirksbürgermeister und die frühere Sportstaatssekretärin haben sensationelle 48,24 Prozent der Stimmen erreicht. Fast also die absolute Mehrheit, die sie gebraucht hätten, um das Vorsitz-Rennen schon in Runde eins für sich zu entscheiden.
Ihnen gegenüber die Parteilinken Kian Niroomand und Jana Bertels, sie haben 36,11 Prozent der Stimmen errungen. Für den SPD-Vize und die frühere Vorsitzende der SPD-Frauen haben sich unter anderem die Jusos stark gemacht. Beide stehen rechts und links neben Giffey an diesem Nachmittag in der SPD-Parteizentrale, vielleicht nur zufällig genau so, wie sie sich auch politisch verorten, und hören als erstes Giffeys beschwörende Worte: "Egal, wer von diesen beiden Paaren das Rennen machen wird, sie werden die Verantwortung haben, die Partei zu einen", sagt Giffey und fährt fort damit, was ihr noch wichtiger erscheint, "und eng zusammenzuarbeiten mit der Fraktion und auch mit dem Senat. Denn nur dann geht es, wenn die drei wichtigen Organe der SPD eng zusammenarbeiten."
Die beiden Teams versichern, dass sie genau das tun werden. "Wir wollen, dass diese Partei geeint ist und zusammenhält", sagt Nicola Böcker-Giannini. "Wahrlich einen Einschnitt" nennt ihr Teampartner Martin Hikel hingegen das Ergebnis. Zusammenarbeit werde es weiter geben, so das Versprechen. Gleichzeitig stehen aber gerade Hikel und Böcker-Giannini für einen Richtungswechsel. Sie stellen die Gebührenfreiheit im Bildungsbereich infrage. Zumindest dürfte die kostenfreie Kita kein Selbstzweck sein, meint der Neuköllner Bürgermeister und fordert erneut eine Umverteilung, damit mehr Qualität möglich sei. Schluss mit dem "Weiter so", erklärt Hikel. Auch über das gerade auf Druck der SPD beschlossene 29-Euro-Ticket sagen die beiden Vorsitz-Anwärter der Parteirechten weiterhin: Das gehöre auf den Prüfstand, angesichts der desolaten Haushaltslage.
Auch beim anderen Kandidatenpaar, Kian Niroomand und Jana Bertels, klingt Kritik durch. Eine kostenlose Kita sei nicht der Kern ihrer Arbeit, sondern wie man die Stadt wieder zum Laufen bringt, sagt Niroomand. Außerdem wollen sie vor allem ein schärferes Profil der SPD erarbeiten, erklärt Bertels. "Wir brauchen eine aktivere Rolle, müssen wieder sichtbarer in der Stadt sein". Nach geräuschloser Begleitung der SPD-Arbeit in der schwarz-roten Regierung hört sich das kaum an.
Aber kann und will Raed Saleh überhaupt SPD-Fraktionschef bleiben, nach dieser Partei-Ohrfeige? Nach diesem Einschnitt, diesem Beben? Der SPD-Vorsitzentscheid und der Fraktionsvorsitz – das eine hat mit dem anderen nichts miteinander zu tun, macht Franziska Giffey umgehend klar, als sie danach gefragt wird. Und natürlich stimmt das – offiziell. Aber dennoch steht die Frage nach der Zukunft von Raed Saleh im Raum. Auch als Fraktionschef hat er durch diese Niederlage an Autorität verloren. Bisher auf Augenhöhe mit CDU-Fraktionschef Dirk Stettner ist Saleh nun angeschlagen.
Später am Nachmittag kommt eine Reaktion von Saleh und Luise Lehmann: Sie zeigen sich enttäuscht, äußern sich nur schriftlich: "Unsere Mitglieder haben im ersten Wahlgang eine eindeutige Entscheidung getroffen, die wir voller Respekt und verantwortungsvoll annehmen", schreiben beide. Die "baldige Klarheit" werde die Partei aber "insgesamt stärken und konzentriert zusammenführen", heißt es weiter.
Die Stichwahl beginnt nun am 2. Mai. Bis 17. Mai sind die gut 18.000 SPD-Mitglieder in Berlin erneut zur Abstimmung aufgerufen. Am Pfingstsamstag wird dann nochmals ausgezählt. Das siegreiche Duo wird dann beim SPD-Landesparteitag am 25. Mai gewählt. Auch wenn die Delegierten nicht verpflichtet sind, sich an das vorhergehende Votum der Parteimitglieder zu halten, so wird das de facto doch passieren. Welche Rolle dann Raed Saleh in der SPD spielen wird, ist derzeit offen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 20.04.2024, 16:30 Uhr
Beitrag von Angela Ulrich
Artikel im mobilen Angebot lesen