Berliner Prothesen für Soldaten aus der Ukraine
Die ersten verletzten ukrainischen Soldaten sind in Berlin, um hier Prothesen zu erhalten. Sie haben im Gefecht Gliedmaßen verloren, einige beide Beine. Orthopädie-Techniker haben sie jetzt in ihrer Unterkunft besucht. Von Angela Ulrich
Pavlo Kushnirov wuchtet sich vom Rollstuhl aufs Behandlungsbett. Der 43-jährige Soldat aus der Ukraine hat kraftvolle Arme, eine muskulöse Brust – aber dort, wo eigentlich die Beine sein sollten, sind nur noch Stümpfe: das eine Bein wurde kurz unterm Kniegelenk amputiert, das andere sogar mitsamt Oberschenkel.
Das ist auf dem Schlachtfeld in der Ukraine passiert, erzählt der bärtige Mann, als seine Einheit nicht genug Munition hatte gegen die russische Artillerie. Den rechten Unterschenkel hat Kushnirov im vergangenen Dezember eingebüßt. Das gesamte linke Bein wurde dann in diesem März amputiert. In der Geflüchteten-Unterkunft in Charlottenburg beugt sich Orthopädietechnikmeister Marko Gänsl über die Beinstümpfe und betastet sie:
"Hast Du Schmerzen?", fragt Gänsl. Pavlo Kushnirov schüttelt den Kopf, als ein Übersetzer ihm die Frage verständlich gemacht hat. "Sag Bescheid, wenn was wehtut", meint Gänsl und fühlt am Stumpf entlang. An einer Stelle zuckt Kushnirov. Hier hat es doch geschmerzt.
Marko Gänsl von der Firma Seeger und Orthopädietechniker von fünf weiteren Berliner Unternehmen bauen Prothesen für die ukrainischen Soldaten. Zehn Männer sind seit dem letzten Wochenende in Berlin. Sie haben Quartier gefunden in der neuen Geflüchteten-Unterkunft in der Quedlinburger Straße in Charlottenburg. Heute beginnt die Anpassung.
Zuerst packt Gänsl das Maßband aus. "Heute sehen wir zum ersten Mal die Stümpfe und können sie genau ausmessen", erklärt der Prothesenbauer. Das sei alles andere als Alltagsarbeit. "Die Stümpfe sind schnell amputiert worden, um Leben zu retten. Das sind andere Voraussetzungen als bei geplanten Operationen in Deutschland."
Gerrit Hülshorst, Orthopädietechniker der Firma Hempel, spannt Maßbänder um Pavlos Beinstümpfe. Er misst, notiert sich Umfänge und Längen. Bitte mal beugen – wie weit ist das Knie noch nutzbar? Alles gut, das rechte Bein des ukrainischen Soldaten ist vergleichsweise einfach zu verarzten. Schwieriger wird das linke Bein – hier fehlt alles, ab dem Oberschenkel abwärts. Jede Aktion erklärt Gerrit Hülshorst genau den fünf jungen Leuten, die am Fußende des Bettes stehen und zuschauen: Trainees aus der Ukraine, die in Berlin lernen sollen, Prothesen zu bauen, um das dann auch in Kiew selbst tun zu können.
Anastacia zum Beispiel. Sie arbeitete zuvor als Physiotherapeutin in Kiew. "Wir wollen unseren Helden helfen", sagt die 23-Jährige. "Denn diese Soldaten, sie sind unsere Helden." Ähnlich sehen das der Ingenieur Akim und die Medizinstudentin Olena. Sie sind mit den Soldaten im Bus aus Kiew nach Berlin angekommen, weil sie genau das lernen wollen: Prothesen für versehrte Ukrainer zu bauen – erst in Berlin, aber später dann in der Ukraine. Für die beiden ist das mehr als ein Job: "Das ist unser echtes Leben, den Männern zu helfen, die im Krieg waren. Es ist so wichtig, sie auch in Zukunft zu unterstützen."
Ins Leben gerufen wurde dieses Projekt vor allem durch das Engagement einer Frau: Janine von Wolfersdorff. Sie hat die Organisation "Life Bridge Ukraine" gegründet, Spendengelder gesammelt, Freiwillige rekrutiert, die ehrenamtlich dabei sind. Die Senatskanzlei hilft auch mit, im Rahmen der neuen Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Kiew. Von Wolfersdorff war auch dabei, als Berlins Regierender Bürgermeister, Kai Wegner, Ende letzter Woche die ersten versehrten Soldaten in der Unterkunft in der Quedlinburger Straße in Empfang genommen hat, gemeinsam mit Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe. "Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko hat Sie verabschiedet – der Regierende Bürgermeister begrüßt Sie in Berlin", sagte Wegner, und betonte nochmal den Zusammenhalt zwischen den Partnerstädten Kiew und Berlin. "Und diese Solidarität mit Kiew, die werden wir auch in den nächsten Jahren fortsetzen."
Für von Wolfersdorff geht die Arbeit jetzt erst richtig los. Insgesamt 60 Soldaten sollen in den nächsten Wochen nach Berlin kommen und hier Prothesen erhalten. Eine Herausforderung, vor allem auch, erstmal die "passenden" Patienten in der Ukraine zu finden, sagt von Wolfersdorff: Es gebe viele komplexe Fälle, nur wenig Menschen mit einfachen Amputationen, die dann auch für die Auszubildenden gut zu betreuen seien.
Aber dennoch sagt von Wolfersdorff: "Unser Ziel ist, dass die Trainees hier in Berlin in den sechs Partnerwerkstätten des Projekts lernen, wie man sehr gute Prothesen in guter Qualität baut, um das in Kiew dann auch umsetzen zu können." Denn am Ende, möglichst schon im Herbst, soll in Kiew ein eigenes Prothesenzentrum entstehen. "Life Bridge Ukraine" hat dafür und für die Versorgung der Soldaten in Berlin rund eine halbe Million Euro an Spendengeldern gesammelt.
Bei Pavlo Kushnirov ist inzwischen alles vermessen. Nächste Woche soll der Soldat in einer der Orthopädie-Werkstätten maßgeschneiderte Prothesen angepasst bekommen. Orthopädie-Techniker Marko Gänsl warnt allerdings vor zu viel Hoffnung: "Das ist schon ein komplett neues Laufen-Lernen, mit einer doppelseitigen Amputation", sagt Gänsl.
Der ukrainische Soldat selbst ist aber optimistisch. "So weit wie möglich möchte ich zum normalen Leben zurückkehren", sagt Kushnirov, "und wenn es geht, auch irgendwann zu meiner Einheit zurückkehren, und weiter kämpfen für die Ukraine."
Sendung: rbb24 Inforadio, 25.04.2024, 06:20 Uhr
Beitrag von Angela Ulrich
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